Kohlenpott à la Grisar

Sozialdokumentarische Fotografie um 1930

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Beim Anblick sozialdokumentarischer Fotografien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Lewis Hine bis Dorothea Lange, Ben Shahn, Gordon Parks usw. könnte man auf die USA fast ein wenig neidisch werden. Gemach, auch hierzulande gab es hervorragende Zeitdokumentaristen, nur sind die nicht weltberühmt. In den letzten Jahren wurden Arbeiten einiger vergessener Fotografen hervor geholt und gedruckt. Manchmal befriedigen diese Bücher allerdings vorwiegend lokalhistorisches Interesse und können bildnerisch nicht überzeugen. Erich Grisars Arbeiten, jetzt wiederentdeckt, ragen da heraus. Dieser Schriftsteller und Journalist griff in den Jahren von 1928 – 1933 zur Kamera, um die Lebensbedingungen im Ruhrgebiet umfassend zu belegen. Fabriken und stillgelegte Arbeitsstätten bildete er ebenfalls ab, Kohle und Stahl waren ihm jedoch nur als Lebensbasis der Menschen interessant. Repräsentative Sichten waren nicht seine Sache.

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In den Texten wird auf andere Fotografen der Zeit verwiesen, so auf die Arbeiterfotografen und vor allem auf Walter Ballhause, mit dem Grisar viel verbindet, aber auch auf August Sander und Albert Renger-Patzsch. Grisars Technik ist nicht so ausgefeilt wie die der Großmeister, dafür sind seine Fotografien ungleich packender. Die journalistischen Aufnahmen sind wahrlich aus dem Leben gegriffen. Selbst bei direkter Konfrontation mit Grisars Kamera ist der Gesichtsausdruck seiner Protagonisten entspannt, schon auch einmal amüsiert, die Haltung locker, nicht „aufgebaut“. Aus diesen Feinheiten zu schließen, war Grisar ein umgänglicher Typ, den Menschen warmherzig zugetan, während die Meister im Vergleich eher bierernst erscheinen. Grisar hatte nicht das Anliegen, ein fotografisches Werk zu schaffen, sondern seine Mitmenschen in Alltag und Freizeit zu beschreiben. Er hatte keine fotografische Ausbildung, Kontakte zu anderen Fotografen gab es kaum.

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Städtisches Leben, Kleingewerbe, Alltag, insbesondere Kinder beim Spiel und bei der Arbeit(!) waren Grisars bevorzugte Themen. Nur wenige Bilder stammen nicht aus Dortmund. Das Buch könnte auch als Dortmund-Band gelten, wäre Grisars Bildwelt nicht so universell. Die „Warteschlange beim Freibankfleischverkauf“: eine Massenszene wie von Piscator arrangiert, mit dem Schlachthof Dortmund als Kulisse, rechts Arbeiterfrauen in der Mitte eine Dame mit Kapotthut, dahinter eine Gruppe von Arbeitern mit Schiebermützen – ein Meisterstück der Beobachtung! Das Porträt „Bergmann mit elektrischer Grubenlampe“ könnte getrost in Sanders Mappen eingeordnet werden, die „Kokerei Kaiserstuhl“ einschlägigen Serien Renger-Patzsch‘ zugesellt. Hinreißend erfasst sind Kinderspiele, etwa beim Bau einer Mauer aus Briketts, aber auch das ernste Gesicht eines jugendlichen Obstverkäufers. Ein Hinterhof wird nicht nur durch zum Trocknen aufgehängte Wäsche akzentuiert, nein, die Strumpfhosen führen ein Ballett auf, ein Ehepaar hat einen Logenplatz oben am Fenster, unten in einer Ecke spielen Zille‘sche Kinder. Der köstliche „Bretterklau auf der Baustelle“ ist leider nur klein abgedruckt. Die Mittagspause eines Arbeiters mit seinen Kindern: das hat Cartier-Bresson‘sches Format. Sammeln von Kohlen, von Schlammkohle gar, und Kohlen schaufeln sind Tätigkeiten, das Leben zu meistern.

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Es wurde schönes Papier verwendet und für optimalen Druck sogar frequenzmoduliertes Raster. Manche Bilder erscheinen dennoch ein wenig flau. Das mag am Bemühen liegen, jede Nuance der Negative zu zeigen. Dem Bildbearbeiter hätte ich Mut zu etwas mehr Brillanz gewünscht. Nur Grisars Negative sind erhalten, Abzüge als Muster waren im Krieg verloren gegangen. Das grossformatige und grosszügig produzierte Buch ist zudem preisgünstig. Die Fotografien von Erich Grisar werden darin eindrucksvoll präsentiert. Für internationale Wertschätzung jedoch bedarf es anderer Mechanismen, obwohl Grisar schon 1932 mit einem von Jan Tschichold eindrucksvoll gestalteten Band mit Reportagen als Fotograf in Erscheinung getreten war.

Erich Grisar, Mit der Kamera und Schreibmaschine durch Europa, Berlin 1932 (Gestaltung Jan Tschichold)

Erich Grisar, Mit der Kamera und Schreibmaschine durch Europa, Berlin 1932 (Gestaltung Jan Tschichold)

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  • Titel: Ruhrgebietsfotografien 1928 – 1933
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Erich Grisar
  • Textautor: Stefanie Grebe, Andrea Zupancic, Arnold Maxwill, Walter Gödden, Hanneliese Palm
  • Herausgeber: Heinrich Theodor Grütter, Stefan Mühlhofer, Stefanie Grebe, Andrea Zupancic
  • Gestalter: Karsten Moll
  • Verlag: Klartext Verlag
  • Verlagsort: Essen
  • Erscheinungsjahr: 2016
  • Sprache: deutsch
  • Format: 30 x 24 cm
  • Seitenzahl: 219
  • Bindung: Illustriertes Hardcover
  • Preis: 19,95 Euro
  • ISBN: 978-3-8375-1404-9

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