Stalins Terror- und Hungerkampagnen, Hitlers Holocaust, der Hungerkrieg gegen die Kriegsgefangenen und die Massenermordung der nichtjüdischen Bevölkerung: All das hat ‑ so der Historiker Timothy Snyder ‑ das Gebiet zwischen Polen und Stalingrad in Bloodlands verwandelt (so der Titel seiner Studie). Mit seinem Langzeitprojekt Krieg ohne Krieg zeigt nun der Zürcher Fotograf Meinrad Schade (Jg. 1968), dass sehr viele Menschen in diesem riesigen traumatisierten Gebiet auch nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Zerfall der Sowjetunion keinen Frieden fanden und finden. Er verdeutlicht komplexe Prozesse, Zusammenhänge und Wechselwirkungen, wobei die Auswirkungen auf die Bevölkerung im Mittelpunkt stehen.
Zum Beispiel diese weite Steppenlandschaft: Die Horizontlinie verläuft weit im oberen Drittel des Fotos. Darüber erstreckt sich ein makelloser Himmel, erst weiß entlang der Horizontlinie, dann ins Tiefblaue übergehend. Wildpferde grasen. Ein Bild der Schönheit und des Friedens ‑ möchte man meinen. Der Schein trügt. Schades Panorama zeigt eine geschundene Landschaft, denn es ist das Atomtestgelände „Polygon Semipalatinsk“ in der kasachischen Steppe. Auf einer Fläche von rund 19000 Quadratkilometern zündeten die Sowjets hier innerhalb von 40 Jahren fast 500 Atombomben. Das Gelände ist heute kaum gesichert. Die Strahlenbelastung ist auf 300000 Quadratkilometern enorm. Das Foto des 1979 geborenen Berik Sysdikov steht damit in engem Zusammenhang: Sein Gesicht ist von Wucherungen vollkommen entstellt. Seine Eltern lebten als Hirten in der Nähe des Atomtestgeländes. Andere Fotos zeigen Erblindete, körperlich und geistig Behinderte.
Schade dokumentiert mit Porträts, Interieurs, Straßen- und Landschaftsaufnahmen einen seltsamen Schwebezustand. Die Kriege – etwa der zwischen Aserbaidschan und Armenien um das nicht anerkannte Berg-Karabach oder die beiden Tschetschenienkriege mit Zehntausenden Vertriebenen – sind vorbei. Aber viele Menschen finden keinen Frieden. Sie leben in Lagern, in Ruinen, im Schutt, in ärmlichen, zerschossenen Hütten. Wieder andere scheinen sich bereits für künftige Waffengänge zu rüsten: So zeigt Schade die Paraden zum 9. Mai, wo überall in den ehemaligen Sowjetrepubliken der Sieg der Roten Armee über die Wehrmacht gedacht wird. Er beobachtet Jugendliche bei Schießübungen oder wie sie in Militäruniformen patriotische Lieder singen. Millionen Gulag-Opfer sind da kein Thema, Stalin steht wieder hoch im Kurs.
Kriege – davon erzählt sein wichtiges Buch ‑ interessieren uns nur so lange, wie geschossen wird. Danach wenden wir uns neuen Kriegen zu. Krieg ohne Krieg wurde 2016 mit dem Deutschen Fotobuchpreis in Silber in der Kategorie „Konzeptionell-künstlerische Fotobildbände“ ausgezeichnet. Schade verzichtet auf jede Effekthascherei, er inszeniert, dramatisiert, ästhetisiert und überhöht nicht, stellt die Opfer nicht bloß und versagt sich jeglichen Voyeurismus. Die Fotos – teilweise zu ausklappbaren Tafeln angeordnet ‑ sind weder in eine Chronologie eingebunden, noch streng thematischen Aspekten zugeordnet. Die zunächst beliebig erscheinende Anordnung trägt dieser Komplexität bewusst Rechnung. Klar wird: Alles hängt mit allem zusammen. Schade führt sein in Osteuropa begonnenes Projekt derzeit in Israel und Palästina weiter. Er wird wohl noch lange zu tun haben.
- Titel: Krieg ohne Krieg / War Without War
- Untertitel:
- Bildautor: Meinrad Schade
- Textautor: Nadine Olonetzky, Daniel Wechlin, Michail Schischkin Fred Ritchin
- Herausgeber:
- Gestalter: Hi – Megi Zumstein & Claudio Barandun
- Verlag: Scheidegger & Spiess
- Verlagsort: Zürich
- Erscheinungsjahr: 2016
- Sprache: deutsch, englisch
- Format: 27,5 x 22,5 cm
- Seitenzahl: 260
- Bindung: illustriertes Hardcover
- Preis: 54 Euro
- ISBN: 978-3858814524
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