Kompromisse? Nicht unser Ding!

Lillian Bassman und Paul Himmel werden als ästhetische Rebellen gefeiert

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Lillian Bassman war Anfang der 1970er Jahre längst ein alter Hase im Geschäft. Da setzten ihr die Redakteure der deutschen Vogue ein Mädchen-Model vor die Nase, und die Grande Dame der Modefotografie bebte vor Zorn. Sie wollte eine Frau fotografieren, und was bekam sie? Ein 16-jähriges ausdrucksloses Kind. Bassman hasste es, wenn andere ihr ins Handwerk pfuschten, denn darauf verstand sie sich ziemlich gut. Ihre atmosphärisch aufgeladenen Inszenierungen waren elegant, stilsicher, individuell. Und der von ihr bevorzugte Frauentypus ziemlich extraordinär. Bassman hielt es dann nicht mehr lang im Modegeschäft, 1971 schmiss sie ihren Job. Ihr Mann Paul Himmel, ebenfalls Modefotograf, arbeitete da schon zwei Jahre als Psychotherapeut.

Dass man sich heute noch an das Künstlerpaar erinnert, liegt an Bassman und ihrem guten Instinkt. Sie kramte Ende der 1980er Jahre ihre Negative wieder hervor und experimentierte damit. Bald interessierten sich Galeristen für ihr Werk und auch Himmel profitierte von dem Aufmerksamkeitsschub. Ingo Taubhorn, Kurator des Hauses der Photographie, entdeckte das Künstlerduo 2006 auf der Paris Photo, und drei Jahre später war in den Deichtorhallen Hamburg die erste Retrospektive zu sehen: aufwendig inszeniert und glänzend kuratiert. Der Katalog zur Ausstellung liegt nun in der erweiterten Neuauflage vor.

Bassman und Himmel waren eines nie: konventionell, gefällig, angepasst. Während 1938, inmitten der Rezession, alle um ihr Geld bangten, verkehrten sie in der New Yorker Intellektuellenszene, besuchten Ausstellungen, tanzten, rauchten, pokerten. Und beide brachten alles mit, um erfolgreich zu sein: Mut, Talent, Selbstbewusstsein. Das erkannte auch Alexey Brodovitch, der Art Director der Modezeitschrift Harper’s Bazaar. Er war nicht nur das Idol des Paares Bassman-Himmel, sondern auch ihr Lehrer, ein strenger noch dazu. Sich selbst und die Welt immer wieder neu und anders betrachten, das war das Mantra des großen Brodovitch.

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Bassman und Himmel beherzigen das und starten 1947 gleich ihre erste Mission: die Neuerfindung der Modefotografie. Himmel interessiert sich für Bewegungsstudien und seine ersten Fotos sind entsprechend inszeniert: Die Models scheucht er in die Grand Central Station, damit sie sich unter die Menschenmasse mischen. Er selbst fotografiert aus der Vogelperspektive, experimentiert so lange mit Über- und Langzeitbelichtung, bis außer den Models alle Menschen nur noch schemenhaft erkennbar sind. In den folgenden Jahren perfektioniert er diesen Stil, seine Bildsprache ist jetzt so radikal, dass kommerzielle Auftraggeber ausbleiben. Himmel ignoriert das, arbeitet energisch an freien Projekten – und wird mit seiner Fotoserie über das New York City Ballet international bekannt.

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Bassman liebt ebenfalls atmosphärisch dichte Inszenierungen, doch sie ist mehr an Ausdruck als an Dynamik interessiert. Die Models, die sie bevorzugt, verkörpern einen ungewöhnlichen Frauentyp: Sie sind langgliedrig, weiblich, anmutig und überaus charismatisch. Es sind tolle, zeitlose Modefotos, die Bassman in den 1940er und 1950er Jahren kreiert. Dabei experimentiert sie mit den Negativen in der Dunkelkammer, bleicht hier ein paar Stellen aus, verwischt dort die Konturen und lässt die Bilder dadurch fast wie Aquarelle erscheinen.

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Bassman und Himmel: zwei Künstler, die nichts mehr verachteten als Kompromisse, ein außergewöhnliches Paar. Sie lernten sich 1932 kennen und lebten bis Himmels Tod zusammen (Paul starb 2009, Lillian 2012). 77 Jahre, in denen sie sich gegenseitig motivierten, über Durststrecken hinweg halfen. Und 77 Jahre, in denen beiden genügend Freiheit blieb, ein eigenständiges Werk zu entwickeln. Die Herausgeber des Kataloges, Ingo Taubhorn und Brigitte Woischnik, arbeiten das präzise heraus. Und klugerweise verengen sie das Werk nicht auf die Modefotografie, sondern zeigen auch die bislang unbekannten und experimentellen Arbeiten.

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Lillian Bassman hat ihren Mann um zwei Jahre überlebt. Sie hat in dieser Zeit unermüdlich gearbeitet, um das gemeinsame Lebensprojekt bekannt zu machen. Man kann das auch als eine Liebeserklärung an Paul Himmel verstehen. In einem ihrer letzten Interviews betonte Bassman, dass sie Paul für den talentierteren, ja, besseren Fotografen hielt. Das zeugt von etwas, dass es heute nur noch selten gibt: Größe.

  • Titel: Lillian Bassman & Paul Himmel
  • Untertitel: Die erste Retrospektive
  • Bildautor: Lillian Bassman, Paul Himmel
  • Textautor: Adelheid Rasche, Bernd Stiegler, Boris von Brauchitsch, Brigitte Woischnik, Britta Scholz, Eric Himmel, Hans-Michael Koetzle, Holger Liebs, Ingo Taubhorn, Martin Jürgens
  • Herausgeber: Ingo Taubhorn, Brigitte Woischnik
  • Gestalter: Detlev Pusch
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg, Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2012 (Neuausgabe)
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 416
  • Bindung: Hardcover mit Schutzumschlag, Bauchbinde
  • Preis: 58 Euro
  • ISBN: 978-3-86828-365-5

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