Mary Poppins mit starkem Charakter

Vivian Maier fotografierte heimlich und mit erstaunlicher Perfektion. Eine Monografie zeigt ihr Werk.

Maier_Cover

Vivian Maier führte, so muss man es wohl sagen, zwei Leben. Das eine begann morgens in einer kleinen Kammer. Hier stapelten sich Schachteln, und was darin war, bekamen weder ihre Arbeitgeber noch deren Kinder je zu Gesicht. Für die Gören gab sie tagsüber das liebevolle Kindermädchen. Wenig emanzipiert war das und schon gar nicht intellektuell. Die Ersatzmutter als Lebensaufgabe? Das war Vivian Maier zu schlicht. So begann ihr zweites Leben, abends und an freien Wochenenden. Vivian Maier war dann kaum wiederzuerkennen: maskuliner Anzug, streng gescheiteltes Haar, Rolleiflex in der Hand – so aufgemacht durchstreifte die Straßen von New York und später auch Chicago. Und die Schachteln in ihrem Zimmer füllten sich: mit Rollfilmen und Negativen.

Der erste Mensch, der den Schatz zu Gesicht bekam, war John Maloof. Der Chicagoer Immobilienmakler suchte nach Bildmaterial für ein Buch und ersteigerte eine Kiste mit Negativen. Völlig vergebens, wie er zunächst dachte. Doch dann begann er sich für die Fotos zu interessieren, und für die Frau, die sie geschaffen hatte: Vivian Maier, alleinstehende Kinderfrau, Autodidaktin in Sachen Fotografie und zum Zeitpunkt des Funds, 2007, bereits seit zwei Jahren tot. Unbekannt blieb die Fotografin dann nicht mehr lang. Wer heute nach Vivian Maier im Internet sucht, landet umgehend auf einer gleichnamigen Website. Und ihr Entdecker Maloof legte nach: Eine Monografie ist unter dem Titel „Vivian Maier – Street Photographer” vergangenes Jahr erschienen.

Warum begreift ein kunstaffiner Immobilienmensch es als seine Lebensaufgabe, Maiers Hinterlassenschaft (über 2.000 nicht entwickelte Rollfilme und geschätzte 100.000 Negative) peu à peu zu veröffentlichen? Weil Vivian Maiers Biografie ziemlich beispiellos und ihre Fotos ziemlich gut sind. Vivian Maier war Straßenfotografin und ihr Handwerk hat sie weder als Assistentin bei großen Fotografen noch im akademischen Betrieb gelernt. Aber Vivian Maier saugte in jeder freien Stunde Wissen auf und schaute sich Fotostrecken in Magazinen an. Und man kann der Versuchung schlecht widerstehen, anhand ihrer Fotos zu rekonstruieren, wer sie beeinflusst hat. Eine Helen Levitt gehört sicher dazu, die Fotografinnen Lisette Model und Diane Arbus ebenso. Schwer zu sagen, was das über Maiers Werk letztlich aussagt. „Hat sie bestimmte Bilder nur gemacht, weil sie, bewusst oder unbewusst, Arbeiten ähnelten, die sie in Zeitschriften oder Ausstellungen gesehen hatte?”, diese Frage wirft der Journalist Geoff Dyer im Vorwort des Buches auf. Und die Frage kommt nicht von ungefähr.

Da sind zum Beispiel die Porträts älterer Frauen. Auf den Fotos schauen sie verkniffen in die Welt. Und man kennt diese Sujets, auch Lisette Model hegte eine Vorliebe dafür. Dann taucht Personal auf, das auch die Welt der Diane Arbus bevölkerte: Freaks, Penner, Behinderte. Schließlich bleibt der Blick an spielenden Kindern hängen, an armen Menschen, die in heruntergekommen Quartieren ihr Dasein fristen. Und der Humanismus der Helen Levitt blitzt kurz auf.

Ebenso wie Levitt hatte auch Vivian Maier einen Sinn fürs Groteske. Ein Vorgeschmack darauf? Ein Windstoß legt die unförmigen Waden einer dicken Passantin frei, wahrlich keine Marilyn-Monroe-Pose. Drei Matrosen warten brav vor einem Diner, wer hat die bestellt und nicht abgeholt? Eine resolute Marktfrau legt sich mit einem Polizisten an, und ihr Kinnhaken dürfte nicht von schlechten Eltern sein. Ein Zeitschriftenverkäufer verabschiedet sich aus einer Welt, in der es keine Leser mehr gibt, und zieht die Tiefschlafphase vor. Und Vivian Maier selbst kommt kaum an einem Schaufenster oder Spiegel vorbei, ohne auf den Auslöser zu drücken und sich selbst zu porträtieren. War das nun Selbstvergewisserung oder Selbstironie?

 

Von Vivian Maier bekam man bislang nur das Frühwerk zu sehen, das schätzungsweise in den 1950er und 1960er Jahren entstanden ist. Doch wie fotografierte sie in den späteren Jahren? Wechselte sie von Schwarzweiß zur Farbe? Entwickelte sie einen anderen Stil? Die Fachwelt kann beruhigt sein: John Maloof wird diesen Fragen nachgehen, er will weiter forschen und neue Fotos von Vivian Maier publizieren. Er kann nicht anders, es ist seine Berufung.

  • Titel: Vivian Maier
  • Untertitel: Street Photographer
  • Bildautor: Vivian Maier
  • Textautor: John Maloof, Geoff Dyer
  • Herausgeber: John Maloof
  • Gestalter: Krzysztof Poluchowicz
  • Verlag: Schirmer/Mosel
  • Verlagsort: München
  • Erscheinungsjahr: 2011
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 136
  • Bindung: Hardcover, illustrierter Schutzumschlag
  • Preis: 39,80 Euro
  • ISBN: 978-3-8296-0563-2

Kommentarfunktion geschlossen.