Tokio, sechs Uhr abends, an einem gewöhnlichen Arbeitstag: Tausende Menschen drängen sich in U-Bahnen hinein. Und es wird wahrlich kein Zentimeter verschenkt. Passt wirklich kein Fahrgast mehr hinein? Doch, da geht noch etwas. Das dienstbeflissene Personal der Bahn presst und schiebt noch einen Rumpf, noch eine Gliedmaße in das Wageninnere hinein. Dann schließen sich die Türen. Nichts und niemand rührt sich mehr, oder besser: kann sich noch rühren. Genau in diesem Moment tritt der Fotograf Michael Wolf an den Bahnsteigrand heran, drückt den Auslöser seiner Kamera – und schießt und schießt. Aggressiv ist diese fotografische Vorgehensweise, kalt und unbarmherzig. Weiß dieser Mann nichts über den herrschenden Verhaltenskodex, der zurückhaltendes Auftreten geradezu erzwingt? Doch. Michael Wolf kennt sich mit der asiatischen Mentalität sehr gut aus, er lebt unter anderem seit über fünfzehn Jahren in Hongkong. Seine Vorgehensweise ist kalkuliert, die Provokation gezielt gesucht. „Ich wollte die ohnehin schon extreme Situation zuspitzen”, so Wolf in einem Interview mit dem Online-Magazin artnet.
Und in der Tat: Dem 57-Jährigen gelingt es, den starren Ritus für einen Moment aufzubrechen. Zeigt sich ein Japaner emotional, schaut er jemals ärgerlich oder verhält sich unkontrolliert? In der Öffentlichkeit nie, auf Michael Wolfs Bildern hingegen schon. Zu sehen ist die unkonventionelle Fotoserie in dem Buch „Tokyo Compression”, das 2010 erschien. Den Fahrgästen entgeht keinesfalls, was der Fotograf draußen treibt. Einverstanden sind sie mit dieser Situation indes nicht, „also halten sie sich die Hand vors Gesicht, drehen den Kopf weg oder verstecken sich hinter einem Pfosten”, erklärt Wolf. Und wozu das Ganze? „Man bekommt resignierte und zornige Gesichtsausdrücke und Blicke vor die Linse, die man sonst nicht sieht.”
Kein Wunder: Michael Wolf ist aufdringlich, geht nah, sehr nah heran. Die klaustrophobische Enge? Wird jedem Betrachter klar. Der Blick fällt auf Ungeschöntes. Die Speichelfäden im Mundwinkel einer Pubertierenden; die Pickel im Gesicht eines Jünglings; die schweißnassen Stirnhaare eines vielleicht 50-Jährigen. Hände allenthalben: zur Faust geballt, an die Scheiben der Fenster und Türen gepresst, Schläfen reibend, das Gesicht abdeckend. Offene Blicke: fast nie. Wie riecht es wohl im Inneren der U-Bahn? Die Atemmasken aus Stoff, die manche Fahrgäste tragen, sind vielleicht nicht nur der Phobie vor Krankheiten geschuldet. Woran denken die Menschen? Der Journalist Christian Schüle wagt mit seinem Essay einen Erklärungsversuch.
Was sagen die Fotos über die Megacity Tokio, ihre Bewohner oder die Japaner generell aus? Theorien über den Charakter einer Nation sind mit Vorsicht zu genießen und gleiten schnell ab in Klischees. Dennoch ist Wolfs These, dass der geregelte Ritus in den U-Bahnen eine Metapher für den japanischen Alltag sei, vielleicht gar nicht so steil. Beinahe acht Millionen Tokioter nutzen die U-Bahnen jeden Tag, ja, müssen dies tun, denn die dicht bebaute Stadt lässt keinen Raum für neue Verkehrswege. Westliche Gäste, die sich in den Untergrund verirren, sind von den sozial konditionierten Einheimischen überrascht und staunen darüber, wie ungerührt sie sich von den „Oshiya” in die Wagen drücken lassen. Unweigerlich stellt man Vergleiche an. Würde sich in einer europäischen Großstadt jemand das gefallen lassen? Sind wir nicht ganz anders? Das ist beileibe nicht ausgemacht.
Großstadtbewohner sind allerorten ein abgebrühtes Volk, geprägt vom hoch technisierten urbanen Lebensumfeld. In der U-Bahn, auf engstmöglichen Raum also, mögen sich die Symptome deutlicher zeigen als anderswo. Michael Wolf regt mit seiner Fotoserie somit zum Nachdenken an: über sichtbare Deformation, zunehmende Abkapselung des Einzelnen und auch die Zumutungen einer modernen Arbeitswelt. Die Schlussfolgerung daraus muss ja nicht ganz so dick aufgetragen sein, wie im begleitenden Essay zu lesen ist: „Die Metro ist das Metronom des metropolitanischen Sklavendaseins.”
Zuweilen wird die Tonlage des Essays arg schwülstig, und es zeigt sich noch ein weiteres Problem des Buchs: der Schluss. Die letzte Bildsequenz, eine Art Short Story, in der die Handlungsträger ein Geschäftsmann und eine Katze sind, wirkt auf unfreiwillige Art komisch. Sie fügt sich so gar nicht in das ansonsten konsequent erzählte Thema des Buchs. Wäre es nicht ratsamer, darauf zu verzichten? – dies fragte sich wohl auch Michael Wolf. Für die zweite Auflage des Buches, erschienen 2011 unter dem Titel „Tokyo Compression Revisited”, hat er einen völlig neuen Abspann gewählt. Doch passt diese Endsequenz nun besser? Nein, letztlich konterkariert auch sie nur die starke visuelle Wirkung des Buchs.
- Titel: Tokyo Compression
- Untertitel:
- Bildautor: Michael Wolf
- Textautor: Christian Schüle
- Herausgeber:
- Gestalter: Hannes Wanderer
- Verlag: Peperoni Books und Asia One Books
- Verlagsort: Berlin, Hongkong
- Erscheinungsjahr: 2010
- Sprache: englisch
- Format:
- Seitenzahl: 112
- Bindung: Leinen mit montierter Abbildung
- Preis: 28 Euro
- ISBN: 978-3-941825-08-6
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