Nach der Saison

Benita Suchodrev trifft Blackpudlians

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Nach dem furiosen Vorgängerbuch 48 Hours Blackpool, in dem sich Benita Suchodrev in den Trubel des Sommers in Blackpool gestürzt hatte, kehrt sie nunmehr ausserhalb der Saison zurück und wendet sich ganz den Einheimischen, den Blackpudlians, zu. Damit begibt sie sich an die Seite von Chris Killip, Don McCullin, Martin Parr und des Filmemachers Ken Loach. Soziale Themen waren in der britischen Fotografie stets stark vertreten. Aber heute kommt‘s dicker. Die Armut ist inzwischen extremer und die Schere zwischen arm und reich klafft deutlicher. Benita Suchodrev begegnet den Menschen aus nächster Nähe, empathisch, jedoch ohne ausgeklügeltem Gestaltungsstreben. Es ist eine Ästhetik, die sich ganz aus dem hautnahen Erleben nährt. Sentimentalitäten sind ausgeschlossen.

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Nebenbei mag es verwundern, dass Benita Suchodrev überhaupt Straßenfotos machen konnte, aber Engländer sind gelassen und aufgeschlossen, reagieren auf eine Kamera nicht hysterisch wie hierzulande. Sogar das Lachen ist den Leuten offenbar nicht völlig vergangen, selbst mit Zahnlücken. Zu allen diesen eindringlich Porträtierten – Bettler, Huren, Obdachlose, Sonderlinge, Kinder, Jugendliche und Alte – fand Benita Suchodrev offensichtlich vertraulichen Zugang. Das gilt für Prostituierte ebenso wie für die Frauen im Altersheim. Ein paar Männern würde ich allerdings nicht gern derart nahe kommen. Das Gesicht einer jungen Frau verschwindet fast hinter Zigarettenrauch; wird sie sich ganz auflösen und an anderem, besseren Ort wieder materialisieren?

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Doch es gibt in Blackpool keine Wunder, auch keine Romantik. Die Bilder haben nichts Verbindliches, sie wollen nicht schmeicheln, weder den Bildgegenständen noch dem Betrachter. Sie sind radikal im Stil und wahrhaftig im Inhalt. Selbst die Stadtbilder und Landschaften, der Blick aufs Meer, sind nicht versöhnlich, es sind wilde Bilder, in hartem Schwarz-weiss gehalten, wie alle Fotografien dieses Buches. Die Tage sind kürzer, also fotografiert die Autorin häufig bei Dunkelheit. Das steigert die schroffe Prägnanz. Ungeschönte Interpretationen des schäbigen Ortes entstehen. Die blödsinnigen Fassaden der Vergnügungs-Etablissements erscheinen noch kulissenhafter als ohnehin. Ein scheinbar intaktes Wohnhaus wird durch einen zerschmetterten Zaun gesehen, warum nur ist dieser von einer Stacheldraht-Girlande gekrönt? Allein der jüdische Friedhof ist offenbar der einzige Ort in Blackpool, der Seelenfrieden bietet.

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Tiere dienen als Metaphern für die Lage der Menschen: Ein junger Elefant schleicht gekrümmt an einer maroden Mauer entlang. Ein Affe hat nichts Possierliches, ist nur Kreatur. Ein Löwe drückt seine Schnauze an die Gitterstäbe, sein aufmerksamer Blick wirkt fatalistisch – welch Porträt! Lediglich Schwärme von Staren künden von Freiheit.

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„Stilleben“, also Geschäftsauslagen, Obst auf einer Kommode im Altersheim, Küchentische, Tresen in Suppenküchen beschreiben besser als ein Sozial-Report die Lebensverhältnisse in Nord-England. Fast brutal geht Benita Suchodrev an die Gegenstände heran – allein die Stills, aneinander gereiht, ergäben eine bittere Anklage – während sie den Blackpudlians mit einer Art verhaltener Zärtlichkeit begegnet.

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Blackpool ist sicher nicht die Hauptstadt der Armut in Britannien, aber das Elend zeigt sich dort kompakter als in den Metropolen (Blackpool ist etwas grösser als die Partnerstadt Bottrop). Aktuell mag man sich fragen, wieso sich Engländer, sogar viele Jugendliche, für den Brexit ausgesprochen haben. Die Jungen begründen das mit der verzweifelten Hoffnung, dass die bislang an Brüssel gezahlten Gelder nun in soziale Projekte, in den Gesundheitsdienst gehen würden. Sie hätten Suchodrevs Bildfolge – ein unwirklicher Essay innerhalb der über 200 Fotografien – von verwegen maskierten und exquisit gekleideten Mitgliedern der Upper Class sehen sollen: da geht das Geld hin.

Der Union Jack auf dem Schlussbild ist nur noch ein zerrissener Fetzen.

 

  • Titel: Of Lions and Lambs
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Benita Suchodrev
  • Textautor: Mark Gisbourne, Matthias Harder, Benita Suchodrev
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Benita Suchodrev und Kehrer Design
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg, Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 31,5 x 25 cm
  • Seitenzahl: 368
  • Bindung: illustriertes Hardcover
  • Preis: 48 Euro
  • ISBN: 978-3-86828-949-7

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