Neorealismo – Die neue Fotografie in Italien 1932-1960

Ein Buch und eine Ausstellung

Neorealismo Cover

Rosselini, De Sica oder Visconti sind Namen, die man mit dem neorealistischen Kino Italiens in Verbindung bringt. Dass es diese Strömung auch in der Fotografie gab, wird in einem opulent bebilderten Bildband dokumentiert, der eine Ausstellung im Fotomuseum Winterthur begleitete. Die Ausstellung präsentierte den Neorealismus wie aus einem Guss – extravagante oder auf den ersten Blick wiedererkennbare Positionen gehen in der Auswahl der Kuratorin bzw. in der Präsentation der Exponate unter. Bemerkenswert viele Abzüge in der Ausstellung waren spätere oder gar moderne Abzüge, diese zuweilen sogar als moderne Tintenstrahl-Ausdrucke und damit nicht mehr als Abzüge auf Fotopapier. Die technische Qualität der Exponate war durch die Bank eine sehr gute, aber auch hinsichtlich des Papiers und der Tönungen sehr einheitliche. Die Aura des „Originals“ war aber nur noch selten zu spüren, selbst wenn die Originalnegative zur Verfügung gestanden haben mögen oder die Fotografen selbst die neuen Abzüge oder Ausdrucke hergestellt hatten. Zumindest in einem Beispiel wurde deutlich, dass die moderne Technik für Prints sensibel eingesetzt werden muss, denn im Falle der „Olivensammlerinnen“ von Calogero Cascio (1952) stach der bläuliche Bildton unangenehm heraus. Die gleichartige Rahmung und Passepartourierung der Abzüge in der Ausstellung taten das übrige, um den Betrachter ins Zweifeln kommen zu lassen, ob es da nicht einfach nur das Buch getan hätte und er sich die weite Reise zu den Originalen hätte sparen können.

Im Buch werden die Arbeiten in einer Mischung aus chronologischer und thematischer Ordnung präsentiert. Zu Beginn stehen Fotos aus der Zeit des Faschimus, die in ihrer Sehweise und in ihren Sujets dem Neorealismo der Nachkriegsjahre voraus gingen. Es folgen Kapitel über die Darstellung von Elend und Wiederaufbau sowie Fotojournalismus und Illustrierte und es werden „Streifzüge durchs Landesinnere“ unternommen, bei denen die Fotografen archaische, ärmliche, aber immer höchst lebensnahe Motive im Sinne des Neorealismo fanden. Wie der Literatur ist den Filmen ein eigenes Textkapitel gewidmet, in der Ausstellung gab es kurze Filmausschnitte auf Monitoren zu sehen sowie Plakate und viele Standfotos. Das abschließende kurze Kapitel, das italienische Fotografenclubs und deren Auffassung von Neorealismo behandelt, war in der Ausstellung diskret in einem Nebenraum versteckt. Die Überschrift „Zwischen Kunst und Dokumentation“ für die Amateurfotos hätte vielleicht auch für das ganze Buch gepasst.

Dass das 1962, also durchaus noch im Kontext der vorgestellten Epoche, erschienene Buch über Neapel, das einer engen Zusammenarbeit von Vittorio de Sica und des großen Reisenden Herbert List entsprang, mit keiner Zeile Erwähnung fand, ist aus aus Vergleichsgründen schade. Ähnlich wie das am Rand genannte Buch „Un Paese“ von Paul Strand und Cesare Zavattini (1955) steht Lists Serie über Neapel für den Blick von außen, der womöglich in einem interessanten Kontrast zu den neorealistischen Reportagen und Einzelbilder der italienischen Fotografen steht.

Die wenigen die Ausstellung betreffenden Bedenken sollten keinesfalls davon abhalten, das bestens gedruckte und in unaufdringlicher Sachlichkeit gestaltete Buch zu erwerben. Der gewichtige Band wird von einem materialreichen Anhang mit einem Lexikon zu Fotografen, Journalisten, Zeitschriften, Ausstellungen und Fotoclubs, einer Zeittafel und einer Bibliographie abgerundet. Was allein fehlt, ist ein Register, denn die Suche nach Bildbeispielen, beispielsweise von Mario Giacomelli, funktioniert nur über engagiertes Blättern im Abbildungsteil.

Für die Fotografie der 50er-Jahre waren die italienischen Verfechter des Neorealismo wichtige Anreger und hinterließen spannende Bilder und Bildfolgen, wovon man sich anhand des eindrucksvollen Kataloges überzeugen lassen kann.

 

  • Titel: Neorealismo
  • Untertitel: Die neue Fotografie in Italien 1932-1960
  • Bildautor: diverse
  • Textautor: 
  • Herausgeber: Enrica Vigano
  • Gestalter: 
  • Verlag: Christoph Merian
  • Verlagsort: Basel
  • Erscheinungsjahr: 2007
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 352
  • Bindung: Hardcover
  • Preis: 49 Euro
  • ISBN: 9783856163310

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