Portraits from Above

Rufina Wu und Stefan Canham porträtieren einzigartige Siedlungen auf Hongkonger Hochhausdächern

Canham

Der Rotterdamer Architekt Winy Maas landete mit seinem ungewöhnlichen Bauprojekt einen Coup: Anstatt einer konventionellen Aufstockung setzte er der Famile Gies zwei Schlafhäuser mit separaten Terrassen auf das Flachdach ihres Hauses. 9300 Flugkilometer entfernt lebt auch ein 73-jähriger Gebäudereiniger ganz weit oben. Sein Zuhause befindet sich auf einem 9-stöckigen Hochhaus mitten im Herzens Hongkongs – verleiht ihm aber keinerlei Prestige. Statt einer Luxus-Dachwohnung lebt der zugereiste Festland-Chinese in einer ärmlichen 6,8 Quadratmeter kleinen Hütte aus Holz und Wellblech.

Wer als Tourist die reiche Metropole durchquert, ahnt nichts von den zahlreichen Dachbewohnern. Die schäbigen, bis zu 30 Haushalte zählenden Wohnsiedlungen in schwindelerregender Höhe sind nur Insidern bekannt. „Wer macht hiervon ein Bild? Wer schreibt auf, was hier passiert“, fragten sich der britische, in Deutschland lebende Fotograf Stefan Canham und die in Kanada lebende, chinesischstämmige Architektin Rufina Wu. Beide lebten von Dezember 2007 bis Februar 2008 als „Artists-in-Residence“ in Hongkong und stießen per Zufall auf die weltweit einzigartigen Dachkolonien. Viele davon befinden sich in alten Stadtbezirken, die nach und nach zwangsgeräumt werden, um modernen, lukrativen Wohn- und Geschäftshäusern zu weichen. „Wir laufen acht Stockwerke die Treppe hinauf. Das Dach ist ein Labyrinth aus Korridoren, engen Fluren zwischen Hütten aus Blech, Holz, Ziegeln und Plastik“, schreiben die Autoren im Vorwort ihres 2008 erschienenen Fotobuches „Portraits from Above – Hong Kong´s Informal Rooftop Communities“. Viele Bewohner öffnen auf ihr Klopfen die Tür, zeigen bereitwillig ihre Wohnungen und geben Auskunft über ihr Leben. Während Wu in prägnanten Texten Bewohner, Wohnungen und Gebäudetypen beschreibt und letztere durch axiomatische Zeichnungen und Grundrisse ergänzt, fotografiert Canham Innenräume und Zugänge, Dachaufsichten und Siedlungspanoramen. Canham und Wu erzählen ihre bemerkenswerten „Rooftop-Storys“ in einer angenehm sachlichen und distanzierten Weise. Der Betrachter wird nicht überwältigt und hat so genügend Raum, sich ein differenziertes Urteil zu bilden.

Staunenswert ist die Energie der Bewohner, die sich in der hochpreisigen Stadt mit ihren Selbstbauten einen Platz erkämpfen. Mit umgerechnet 60 bis 200 Euro Monatsmiete sind die Hütten trotz eines schlecht bezahlten Jobs auch für Fabrikarbeiter, Angestellte, Zuwanderer oder Rentner mit kleinen monatlichen Bezügen halbwegs erschwinglich. Die behördlich nicht genehmigten Siedlungen bieten kaum Komfort, dafür aber verlässliche soziale Beziehungen. Einige Bewohner leben bereits seit mehreren Jahrzehnten auf dem Dach. Wie gelingt das?, fragt sich der Betrachter. Gibt es Telefon, Strom, Gas und Wasser? Kommen Briefe an? Was tut die Regierung gegen den Wohnungsmangel? Antworten auf diese Fragen liefert der ergänzende Essay von Dr. Ernest Chui, Professor für Sozialarbeit an der Hongkonger Universität.

Auch wenn die „Rooftop Houses“ singulär sind, lassen sie Rückschlüsse auf wirtschaftliche und soziologische Phänomene zu, die allgemeingültig sind. Hongkong gilt als eine der liberalsten Marktwirtschaften der Welt: Niedriglöhne, Deregulierung, Privatisierung und mangelnde soziale Sicherungssysteme haben die Kluft zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt. Letzteres trifft auch auf viele westliche Gesellschaften zu. Canham und Wu liefern aber keine der zur Zeit beliebten Dokumentationen von Armut ab. Vielmehr zeigen sie, wie sich eine Gruppe von Mittellosen hartnäckig gegen soziale Ausgrenzung sträubt und sich nicht in die städtische Peripherie abdrängen lässt. Die „Rooftop Houses“ sind eng, undicht und im Sommer unerträglich heiß. Dennoch haben sich die Bewohner, auf deren fotografische Porträts bewusst verzichtet wurde, hier dauerhaft häuslich eingerichtet. Hier und da blitzt wahre Lebenskunst auf. Etwa wenn ein kleiner Junge an der Wand der Nachbarwohnung Fußball spielt. Wu schreibt dazu: „Er muss aufpassen, nicht zu fest zu schießen, damit der Ball nicht neun Stockwerke die Straße hinunterfällt.“

  • Titel: Portraits from Above
  • Untertitel: Hong Kong´s Informal Rooftop Communities
  • Bildautor: Stefan Canham
  • Textautor: Rufina Wu
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: 
  • Verlag: Peperoni Books
  • Verlagsort: Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2008
  • Sprache: englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 280
  • Bindung: Hardcover mit Schutzumschlag
  • Preis: 45 Euro
  • ISBN: 978-3-9809677-7-8

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