Zwei schöne Damenbeine an ein Geländer gelehnt. Dahinter verschwimmt das Häusergewirr Manhattans im Nebel. Das Empire State Building ragt im Hintergrund phallisch empor ‑ horizontale Erotik, vertikale Architektur. Edward Kaspers Fotografie aus dem Jahre 1950 ist ein treffliches Sinn-Bild für die Stadt New York. Pracht, Glamour, Hedonismus einerseits ‑ die überwältigende Stadtlandschaft, die Weltmetropole als Moloch und pulsierender Schmelztiegel andererseits. Kaspers Foto ziert den bei Taschen erschienenen kiloschweren Folianten über New York. Es ist kein Fotobuch im buchkünstlerischen Sinne, sondern vielmehr eine faszinierende Geschichte und Kulturgeschichte der Metropole am Hudson im Spiegel der Fotografie. Die Wahl gerade dieses Bildes von Edward Kasper deutet bereits an, dass der Herausgeber und Autor, der Fotohistoriker Reuel Golden, auf bekannte Bild-Ikonen zwar keineswegs verzichtet, aber den Fokus doch mehr auf ungewöhnliches Material legt. So findet man etwa von Weege eben nicht die berühmten Kinder auf der Feuertreppe oder den erschossenen Kleinkriminellen Andrew Izzo, sondern bescheidene, aber nicht minder beindruckende, Straßenszenen und Stadtansichten. Das früheste Foto in diesem Band datiert aus den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts und zeigt ein ländliches Wohnhaus im heutigen Brooklyn. Von da spannt sich der Bogen bis ins 21. Jahrhundert. Das Buch taugt nicht als Architekturführer, das es auch nicht sein will. Die Auswahl konzentriert sich vielmehr auf die Stadt als Lebensraum, Schmelztiegel und Katalysator für eine historische Entwicklung. So wird anhand New Yorks der rasante Aufstieg Amerikas zur Weltmacht mit all seinen Rückschlägen versinnbildlicht. Folglich stehen vor allem die Menschen im Mittelpunkt der Bildauswahl – in grandiosen, mondänen oder ärmlich-erbärmlichen architektonischen Kulissen, je nachdem.
Der Band enthält Arbeiten von rund 150 Fotografen, darunter auch etliche anonyme. Die Gestaltung ist sachlich und unaufdringlich, Bildlegenden und Essays sind, wie oft bei Taschen, dreisprachig. Im Anhang finden sich Kurzbiografien (wobei unerklärlicherweise der erwähnte Fotograf des Titelmotivs fehlt!). Film- und Lektüreempfehlungen, ein Index sowie eine Auswahlbibliografie laden dazu ein, sich weiter mit New York zu beschäftigen. In gleichem Konzept und ähnlicher Aufmachung hat Taschen bereits Bücher über Berlin, China, Paris und Los Angeles herausgegeben. Fehlen noch Moskau, London und Tokyo.
- Titel: New York
- Untertitel: Portrait of a City
- Bildautor:
- Textautor: Reuel Golden
- Herausgeber: Benedikt Taschen
- Gestalter:
- Verlag: Taschen
- Verlagsort: Köln
- Erscheinungsjahr: 2010
- Sprache: deutsch, englisch, französisch
- Format:
- Seitenzahl: 560
- Bindung: Hardcover mit Schutzumschlag
- Preis: 49,99 Euro
- ISBN: 978-3-8365-0514-7
Wirklich ein starkes Buch. Und 560 Seiten – da ist der Preis echt gerechtfertigt.
Pingback: Mythos Paris | kasseler fotobuchblog
Pingback: Vier Kilo Berlin | kasseler fotobuchblog