Aids in Odessa

Andrea Diefenbach zeigt traurig stimmende Bilder aus der Ukraine

Aids in Odessa

Odessa ist eine janusköpfige Stadt. Verführerisch und schön zeigt sie sich im Zentrum mit einer aufwendig restaurierten Altstadt. Hier tummeln sich erlebnishungrige Touristen, feiern exzessive Partys in Clubs oder am nahe gelegenen Strand. Verlässt man das schmucke Stadtzentrum, offenbart sich die stille, düstere Seite der ukrainischen Metropole. Die Menschen, die hier leben haben wenig Grund zum Feiern: ihr Leben ist bestimmt von Arbeitslosigkeit, Drogen, Prostitution und Krankheit. Von den rund einer Million Einwohnern Odessas sind – nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – circa 160000 mit dem HI-Virus infiziert.

Andrea Diefenbach kam nicht als Touristin nach Odessa. Durch Zeitungen erfuhr sie von der Aids-Epidemie in der Ukraine – erschrocken darüber, dass dieses Land unmittelbar hinter der EU-Grenze weltweit zu den Staaten zählt, in denen sich Aids am schnellsten ausbreitet. Das Thema ließ die 34-jährige Fotografin nicht mehr los. „Ich hatte den Tatendrang, dass ich unbedingt erzählen wollte, was in diesem Land geschieht. Gleichzeitig hatte ich viel Respekt, aber auch Angst, ob ich mit dem klar kommen würde, was ich erlebe“, schilderte sie in einem Interview. Andrea Diefenbach entschied sich für eine reportagehafte Dokumentation – ausgehend von einer Stadt, Odessa, und von nur wenigen Einzelschicksalen. Sie nahm Kontakt zu Hilfsorganisationen und Krankenhäusern auf und fand schließlich fünfzehn HIV-positive Menschen, die sich in ihrem täglichen Leben und Überleben von ihr begleiten ließen. Zwei Monate verbrachte Andrea Diefenbach im Frühjahr 2006 in Odessa.

Unter dem Titel „Aids in Odessa“ ist ihre Arbeit als Fotobuch im Hatje Cantz Verlag erschienen. Zu sehen sind eindrückliche, berührende Bilder, die von Paaren mit Kindern, von Alleinstehenden, von Menschen unterschiedlichen Alters und sozialer Herkunft erzählen. Oleg, Julia, Natascha oder Jura lauten ihre Namen. Von dem Schmerz, der Verzeiflung und Isolation, aber auch von der Gleichgültigkeit, die sie täglich erfahren, berichten die Bilder. In Odessa fehlt es an allem: Geschulten Ärzten, antiretroviralen Therapien, Substitutionsprogrammen und vor allem psychologischer Betreuung. So sieht man Mascha oder Vitalik dabei zu, wie sie sehr dezent mit Spritzen hantieren, schlafen, rauchen, fernsehen, grübeln und warten. Warten vor allem. Viel ist, wenn es eine Mutter, einen Partner, eine Freundin oder eine Katze gibt, die für Momente Wärme und Nähe schenkt. Die trostlose Umgebung, bestehend aus grauen Wohnblöcken, verwahrlosten Hinterhöfen und schäbigen Krankenhäusern, verstärkt die bedrückende Atmosphäre.

Sozialreportagen werden heute in Magazinen kaum veröffentlicht. Das mag man bedauern. Wenn man „Aids in Odessa“ in Händen hält, scheint die Bedeutung und der Ernst solcher Fotos in der Buchform aber weit besser aufgehoben. Das Buch fordert dem Betrachter die notwendige Hingabe und Konzentration ab. Aber: Fotos allein können nichts erklären, das weiß auch Andrea Diefenbach. Sie legt ihr Buch in zehn Kapiteln an, in denen sie Einzelpersonen oder ein Paar porträtiert, und ergänzt die Bildserien mit Texten, die mehr zu den Lebensgeschichten erzählen.

Andrea Diefenbach hat das Vertrauen der Menschen durch ihr ehrliches Interesse gewonnen und nutzt diese Offenheit nicht aus. Die Fotos verdeutlichen ihren empathischen und genauen Blick. Dabei versteht sie es, sich sensibel anzunähern und im Zweifelsfall auch umsichtig zurückzuziehen. Tanja, Igor und Sergej sterben noch vor Abschluss des Projekts: Diefenbach findet zarte symbolische Bilder für ihren Tod.

  • Titel: Aids in Odessa
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Andrea Diefenbach
  • Textautor: Boris Mikhailov, Andrea Diefenbach
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: 
  • Verlag:  Hatje Cantz
  • Verlagsort: Ostfildern
  • Erscheinungsjahr: 2008
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: ohne Paginierung
  • Bindung: Hardcover
  • Preis: 29,80 Euro
  • ISBN: 978-3-7757-2158-5

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