Alltägliche Sensationen

Josef Heinrich Darchingers opulenter Bildband zum Wirtschaftswunder

Darchinger

Als der Taschen-Verlag unlängst Josef Heinrich Darchingers opulenten Bildband „Wirtschaftswunder – Deutschland nach dem Krieg 1952-1967“ vorstellte, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, diese Fotos seien „seltene Zeitdokumente, die zeigen, wie schnell in den grauen Alltag wieder Farbe zurückkehrte.“ Das ist ausgemachter Blödsinn. Der Alltag war nicht deswegen plötzlich bunt, weil Darchinger einen Farbfilm benutzte. Richtig ist, dass man sich dieser Zeit vorwiegend in Grautönen erinnert. Das liegt daran, dass der Schwarzweißfilm noch der Standard war und ohnehin viel seltener fotografiert wurde als heute. Von daher sind Darchingers jetzt edierte Fotografien dazu angetan, unsere Vorstellung von den zwanzig Nachkriegsjahren gehörig durcheinander zu bringen. Allein die Farbe lässt vieles unerhört neu wirken. Die Zeit zwischen Vergangenheit und Gegenwart scheint bisweilen auf magische Weise aufgehoben. Diese Unmittelbarkeit ist frappierend.

Allzu oft zeigen Bildbände über jene Epoche das ewig Gleiche: Den Wiederaufbau der zerstörten Städte mit den neuen autofreundlichen Wegschneisen, die modernen Wohnsiedlungen, ausladend geschwungene filigran wirkende Treppen in hochglanzpolierten Konzernzentralen, putzige Wohninterieurs mit trompetenförmigen Stehlampen, Gummibäumen und Nierentischen. Darchingers „Wirtschaftswunder“ vermittelt dagegen einen Gesamteindruck, der sich von diesen üblichen Mustern der Erinnerungskultur absetzt. Das Armutselend nach Krieg und Wirtschaftsreform hält er ebenso in Farbe fest wie den beginnenden Wohlstand, für den – wenigstens in der Kapitelüberschrift ‑ noch immer die rauchenden Schlote stehen. Das dritte Kapitel zeigt das politische Leben, Politikerporträts, Veranstaltungen, Demonstrationen, die Teilung Deutschlands. Darchinger ist ja vor allem als Chronist der „Bonner Republik“ bekannt geworden.

Das Beste was man über Darchinger sagen kann, ist: Seine Fotos sind nie langweilig. Immer versucht er den interessanten Aspekt aus einer Situation herauszukitzeln. Das ist nicht immer spontan, vieles wirkt gestellt und inszeniert. Aber warum auch nicht? Darchinger war Pragmatiker, es ging ihm um die Vermittlung von Informationen. Er wollte dem Publikum seiner Zeit ein Bild seiner Zeit vermitteln, und das ist ein ehrenwertes Anliegen: Wie es in einem Kindergarten zugeht, wie sich die ärztliche Versorgung gestaltet, Männer am Stammtisch einer (Fritzlarer) Dorfkneipe, das beschwerliche Leben im ländlichen Bereich. Darchinger sucht nicht das Sensationelle, Spektakuläre. Seine Sensationen findet er im Alltäglichen. Und das macht seine Bilder wertvoll und interessant und verleiht ihnen eine dauerhafte Gültigkeit. Die Farbigkeit setzt dem Ganzen dann die Krone auf.

  • Titel: Wirtschaftswunder
  • Untertitel: Deutschland nach dem Krieg 1952-1967
  • Bildautor:  Josef Heinrich Darchinger
  • Textautor: Klaus Honnef u.a.
  • Herausgeber: Frank Darchinger
  • Gestalter: Sense/Net Andy Disl, Birgit Eichwede
  • Verlag: Taschen
  • Verlagsort: Köln
  • Erscheinungsjahr: 2008
  • Sprache: deutsch, englisch, französisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 288
  • Bindung: Hardcover, Schutzumschlag
  • Preis: 29, 80 Euro (vergößerte Vorzugsausgabe mit einem Print: 400 Euro)
  • ISBN: 3836500191 (Vorzugsausgabe: 3836507331)

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