Gothic Lolita meets Sailor Moon

Oliver Sieber auf der Spur von Cosplayern

Character Thieves

In seinem Fotobuch „Character Thieves“ ist Oliver Sieber Fabelwesen auf der Spur. Doch die Gestalten sind menschlichen Ursprungs – es sind Jugendliche, die in die Haut ihrer Comic-Helden schlüpfen.

Wie kann man einem fremdbestimmten Teenagerdasein in einer eintönigen Vorstadtsiedlung entfliehen? Man nehme japanische Comics (Mangas) zur Hand, tauche ergänzend dazu in die fantastischen Welten japanischer Zeichentrickfilme (animes) ab – und schlüpfe am Ende gar selbst in die Haut eines Lieblingsakteurs. Costume Player (Cosplayer), so nennt man die 13- bis 25-jährigen Akteure, die als fleischgewordene Figuren aus Mangas und Animes weltweit für Erstaunen sorgen.

Cosplaying wird erst interessant, wenn man es mit anderen gemeinsam betreibt. Mehr als vierzigtausend Cosplayer benutzen „Cure“, die Website der beliebtesten japanischen Cosplay Community, laden dort ihre Porträts hoch, kommunizieren miteinander und knüpfen neue Kontakte. Wem dies zu eindimensional ist, der fährt zu Treffen und zeigt sich auf Wettbewerben, den Conventions. Mittlerweile gibt es fast jeden Monat, irgendwo in Deutschland, eine Convention oder ein größeres Treffen. Passanten wundern sich dann über die merkwürdigen Außerirdischen, die in quietschbunten Kostümen gern auf dramatische Effekte zielen.

Doch Exhibitionisten, die auf jede Gelegenheit warten, sich in Positur zu bringen sind Cosplayer nicht. Fotos tauschen sie nur mit Gleichgesinnten aus, die die Figuren und deren Codes kennen. Und wie professionelle Schauspieler tragen sie ihre Kostüme nie im Alltagsleben. Im Gegenteil: Um in ihrer Rolle aufzugehen, benötigen Cosplayer ein spezielles Setting. Schließlich wirkt auch ein Darsteller ohne ein stützendes Bühnenbild wie aus der Welt gefallen und reichlich kapriziös.

Und wirklich: Ein schwarzer großer Riesenvogel, der sich aus einer fernen Fabelwelt in ein Leverkusener Jugendzimmer verirrt, macht eine traurige Figur. Wer ist hier der „Entzauberer“, der mit solchen unbekannten Fotos irritiert? Es ist Oliver Sieber, der sich, obgleich er mit 42 Jahren dem Teenageralter längst entwachsen ist, seit vielen Jahren für Jugendkulturen interessiert. In seinen bisherigen Arbeiten hat der akademisch ausgebildete Fotograf Skinheads und Mods, transsexuelle Jugendliche und Punks porträtiert.

Für sein neues Fotobuch mit dem Titel „Character Thieves“ war er in Deutschland, Japan, Kanada und den USA unterwegs. Sein Interesse gilt Cosplayern, sein Mittel ist aber nicht die Reportagefotografie. Auf Fotoserien, die Cosplayer als bizarre Außenseiter oder Conventions als Freakshow zeigen und beim Betrachter allenfalls vorhandene Vorurteile und Bewertungen verstärken, verzichtet Sieber klugerweise. Vielmehr bringt er die Cosplayer in ihre alltägliche Umgebung zurück und zeigt sie zugänglicher und verletzlicher zugleich. Wo hat Lara Croft ihren animalischen Sex, ihre funkensprühende Aggressivität gelassen? Ist irgendwie im amerikanischen Eigenheim verloren gegangen, vor dem sie recht verloren steht. Auch Squall aus Neuss sucht noch nach der richtigen Pose. Gar nicht so einfach, mit Lederkluft und riesiger Knarre in der Hand lässig in einer Terrassentür zu lehnen.

Oliver Siebers Protagonisten, deren wahre Namen nicht genannt werden, leben in geschniegelten Bungalows ebenso wie in tristen Mietskasernen. Sieber fotografiert sie in ihren Jugendzimmern, in Hauseingängen, Vorgärten und Hinterhöfen. Doch in der tristen Umgebung, im banalen Alltag taugen ihre Pseudo-Identitäten nichts. Die Kostüme wirken glanzlos, die Rollen blass gespielt. Wie versteinert stehen sie da, ernst, introvertiert, der Kamera ausweichend. Hilflos wirken jetzt die Versuche, sich in ein fantastischeres, aufregenderes Leben zu träumen.

Doch Einsamkeit, Angst und Verzweiflung geht uns alle an – am besten setzt man diesen drängenden, einengenden Emotionen kraftvolle Imaginationen entgegen. Ob die kommerzialisierte Bilderwelt und die klischeehaften Rollentypen der Mangas und Animes dafür geeignet sind, kann man hinterfragen. Aber gewiss ist: Jeder braucht Bilder, die motivieren, allzu Starres und Bekanntes aufzubrechen, andere Rollen auszuprobieren, Neues zu wagen. Mit seinen respektvollen, behutsamen Porträts der Costume Player erinnert Oliver Sieber daran.

  • Titel: Character Thieves
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Oliver Sieber
  • Textautor: Andrea Mariko Takeuchi
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Oliver Sieber, Katja Stuke
  • Verlag: Schaden.com feat. Kobayashi/Böhm Publishers
  • Verlagsort: Köln
  • Erscheinungsjahr: 2008
  • Sprache: japanisch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: ohne Paginierung
  • Bindung: Softcover
  • Preis: 38 Euro
  • ISBN: 9783932187636

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