Kindheit – so fern, so nah

In „Sommerherz“ schaut man Thekla Ehlings Töchtern beim Aufwachsen zu – mit unerwarteten Déjà-vu-Erlebnissen

Ehling

Thekla Ehling kennt die ländliche Umgebung von Bielefeld sehr genau. Sie ist dort aufgewachsen – inmitten einer sanften Hügellandschaft mit Wäldern, Wiesen, Flüssen und Bächen. Wie sah Ehlings Kindheit aus? Während die Eltern mit sich beschäftigt waren, brach sie mit Freunden auf, die Natur und die Welt zu erobern. Die Kinder führten ein Eigenleben und für Erwachsene galt: Draußen bleiben.

Heute ist Thekla Ehling 40 Jahre alt; sie ist akademisch ausgebildete Fotografin und hat zwei Kinder zur Welt gebracht. Ihr aktuelles Fotobuch „Sommerherz“ ist aus gutem Grund ihren Töchtern gewidmet. Über mehrere Jahre hinweg begleitete sie Luzy und Tula sowie deren Freundeskreis, hielt ihr Aufwachsen in Bildern fest. Ehling nahm dabei die Rolle der passiven Beobachterin ein – nüchtern und dennoch anteilnehmend. Beim späteren Betrachten der Fotografien war die Wahl-Kölnerin überrascht – diese glichen den inneren Bildern ihrer Kindheit im Westfälischen. „Etliche Déjà-vus habe es gegeben“, erzählte Ehling dem Kunstwissenschaftler Christoph Schaden, der für „Sommerherz“ das Nachwort verfasste.

Und wirklich: Ist man wie Ehling in den Siebzigern jenseits der Stadt groß geworden, stellen sich beim Betrachten zahlreiche Erinnerungen ein. Das sanfte Gleiten durch körperhohe Getreidehalme, das beherzte Durchmessen einer dunklen Tannenlichtung, das lustvolle Eintauchen in einen kühlen See: Es sind vor allem diese wieder belebten, sinnlichen Erfahrungen, die Wehmut aufkommen lassen. Und Unbehagen – neben all diesen schönen Momenten, stand da nicht auch etwas anderes?

Thekla Ehling zeigt die Spannung zwischen Freude und Schmerz, zwischen erstem Erleben und Abschied nehmen. Sie interessiert sich für die Vergänglichkeit – für Momente, in denen sich etwas verändert, Aroma oder Geschmack verliert: „Mir fehlt etwas im Herzen“, dies habe ihre Tochter in einem Moment gesagt, als sie das erste Mal Wehmut verspürte, erinnert sich Ehling. Identitätsbildung, so kann beim Durchblättern des Buches meinen, ist ein einsamer Prozess. Erwachsene kommen darin – bis auf zwei Ausnahmen – nicht vor. Die Kinder stehen für sich allein: Mal blicken sie offen in die Kamera, mal scheinen sie diese gar nicht wahrzunehmen. Gerade in diesen abwesenden Momenten gelingen Bilder, in denen die Porträtierten fragil und angreifbar erscheinen. Ein Mädchen liegt auf einem Bett und vergräbt ihr Gesicht in einem Tuch, eine introvertierte Jugendliche trägt ihren Jeansanzug wie einen Schutzpanzer, ein blonder Junge hockt allein auf einer Tischtennisplatte – auf allen diesen Bildern scheinen sich die jungen Protagonisten in einem psychischen Schwebezustand zu befinden. Der Blick ist nach innen gerichtet, sich selbst befragend. Obsiegt Resignation oder Hoffnung, Angst oder Aufbruchstimmung?

Thekla Ehlings fotografische Arbeit fasziniert, weil sie Kindheit und Jugend nicht eindimensional darstellt: Freude geht fließend in Schmerz über, dem Zusammensein mit anderen steht existentielle Einsamkeit gegenüber – niemals gibt es absolute Geborgenheit, unbegrenztes Glück. Es ist gerade dieser unsentimale Blick, der die Qualität des Buches ausmacht.

  • Titel: Sommerherz
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Thekla Ehling
  • Textautor: Christoph Schaden
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: 
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg
  • Erscheinungsjahr: 2008
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 72
  • Bindung: illustriertes Hardcover
  • Preis: 48 Euro
  • ISBN: 9783868280357

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