Nah dran und gefährlich mitten drin

Angst, Verzweifelung, Wut, Entsetzen, Fassungslosigkeit, Ohnmacht, Trauer, Stolz, Verachtung, Hass: Als im August 1968 sowjetische Truppen die Tschechoslowakei besetzten, war Josef Koudelka zufällig in Prag und schuf weit mehr als eine Reportage über einen Kulminationspunkt europäischer Geschichte. Diese Serie ist ein gewaltiges fotografisches Epos menschlicher Emotionen, das als aufrüttelndes, zeitloses Plädoyer für die Freiheit nichts von seiner Wucht eingebüßt hat.Koudelka begann in den 1950er Jahren als Theaterfotograf, bevor ihn seine Aufnahmen vom Leben rumänischer Zigeuner in den sechziger Jahren erstmals einem größeren Publikum bekannt machten. Seine Fotos von der Prager Invasion konnten – wen wundert’s – nicht jenseits des Eisernen Vorhangs gezeigt werden, und er ließ das belichtete Material außer Landes schmuggeln. Magnum veröffentlichte Teile der Bildreportage 1969 in zahlreichen Zeitschriften, allerdings anonym, um den vorläufig noch in Prag lebenden Fotografen und seine Familie nicht zu gefährden. In der Tschechoslowakei konnten diese Bilder erst nach 1990 veröffentlicht werden.

Nun hat der Schirmer-Verlag gemeinsam mit Koudelka rund 250 Bilder der Serie ausgewählt und ein großartiges Buch daraus gemacht. Viele Aufnahmen werden hier erstmals gezeigt. Die Veröffentlichung zum 40. Jahrestag der Invasion fällt mit dem Einfall russischer Truppen in Georgien zusammen. Was für eine Parallele! Dass sich Koudelka mit diesen Bildern unauslöschlich in die Geschichte der Fotografie eingeschrieben hat, verwundert nicht. Koudelka verfolgte das Geschehen nicht als unbeteiligter Beobachter aus sicherer Distanz. Ganz im Gegenteil. Er ist stets ganz nah dran und gefährlich mitten drin. Verwischungen und Verzerrungen lassen erkennen, dass er selbst im Fluchtreflex noch den Auslöser betätigte.

Eingefügte Rundfunk- und Augenzeugenberichte, Appelle diverser Komitees, Parolen, Aufrufe, Flugblatttexte – vielfach in weißem Fettdruck auf schwarzen Grund (oder umgekehrt) – bilden einen kommentierenden Subtext und strukturieren die Anordnung der Fotografien. Historische Objektivierung wird bewusst vermieden, der Betrachter mit den Ereignissen konfrontiert, als wären sie eben erst passiert. Darüber kann man sicherlich streiten. Vielleicht ist „Invasion Prag 68“ das Buch, das Koudelka schon vor 40 Jahren gerne gemacht hätte, wenn sie ihn denn gelassen hätten…