Architektur der Verdichtung

Als Sammler von Fotobüchern kann und will man sich nicht immer alles leisten. So muss man eine Auswahl treffen und hoffen, ohne auf Vollständigkeit zu zielen, das Richtige ausgewählt zu haben, um das Schaffen eines Fotografen, einer Fotografin repräsentativ kennen zu lernen bzw. ein Buch zu bekommen, das den eigenen Sammlungsschwerpunkt bereichert. So hat man bei Michael Wolf (1954-2019), von dem es mehr als 20 Fotobücher gibt, die Qual der Wahl. Für sein bildjournalistisch geprägtes Frühwerk, das noch Deutschland-Themen umfasst, ist die Erstveröffentlichung seiner 1976 entstandenen Examensarbeit über Bottrop passend, als Anschauungsobjekt für ein perfektes Fotobuch der zuerst 2010 erschienene Band über die U-Bahn in Tokio und zum Thema Metropolis das Buch über Hong Kong von 2009. Es erschien in zwei Bänden einerseits für Außenansichten (Hong Kong Outside) und andererseits für in den Wohnungen entstandenen Mieterporträts (Hong Kong Inside). Wolfs mit Teleobjektiven eingefangener Blick auf die zu Hochhäusern aufgestapelten Wohnungen ist erschreckend und faszinierend zugleich. Dort leben wirklich Menschen?

Wolf hat es mit seinen Fotos geschafft, eine lakonische Interpretation dieses Molochs in Buchform zu bringen – ähnliches war vor ihm auf ganz andere Weise schon Ryuji Miyamoto bzw. Greg Girard gelungen, die Bücher über den wenig später abgerissenen, grotesken Wohnkomplex Kowloon Walled City in Hong Kong vorlegten (1988 u.a. bzw. 1993). In den Arbeiten von Wolf werden die ornamentalen Qualitäten der Wolkenkratzerfassaden durch die Wahl von Ausschnitten, Standpunkten und Beleuchtung herausgearbeitet. Die stoische Wiederholung der Architekturelemente vermittelt das Gefühl, als ob der Blick in einem Stück Op-Art von Vasarely oder in einem surrealen Gemälde von M. C. Escher gefangen wäre. Hin und wieder lassen sich Unterbrechungen der Gleichförmigkeit entdecken, wie die Straßenlaterne im Vordergrund des Covermotivs.

Die zweibändige Hong Kong-Ausgabe von 2009 und auch der 2012 nachgeschobene Einzelband mit den Außenansichten waren schnell vergriffen und sind nur noch antiquarisch für viel Geld zu bekommen. Da Wolfs früherer Verleger Hannes Wanderer (Peperoni Books) 2018 verstorben ist, haben sich Ana Druga, die schon früher mit Wolf und Wanderer zusammengearbeitet hatte, und Thomas Gust der Fortführung von Wolfs bei Peperoni erschienenen Publikationen von Wolf verschrieben. So ist es zu begrüßen, dass der Hong Kong-Klassiker nach zehn Jahren wieder verfügbar ist, übrigens in der selben Druckerei gedruckt, die einst auch die Peperoni-Bücher produziert hatte. Das von Hannes Wanderer stammende Layout wurde im Prinzip beibehalten, aber durch eine leicht veränderte und erweiterte Bildauswahl mehr auf den repetitiv-ornamentalen Charakter der Fassaden konzentriert. So lohnt sich ein neuer Blick auch für diejenigen, die die ursprüngliche Version schon kennen.

Michael Wolf, Hong Kong Inside – Hong Kong Outside, Berlin: Peperoni Books und Hong Kong: Asia One Books, 2009 (zwei Bände und Schuber); unten rechts das Buch von 2022