Beletage

Lars Nickel zu Gast bei Ärztin und Rechtsanwalt

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Porträts von Berühmtheiten dieser Welt gibt es reichlich, beeindruckende Bildnisse von Arbeitern, Truckern und Hobos ebenfalls. Man denke nur an Richard Avedon, der Exponenten beider Gruppen eindrucksvoll abgelichtet hat. Von Menschen der gesellschaftlichen Mitte jedoch gibt es wenig bildliche Evidenz. Natürlich erscheinen sie in Projekten, die eine Gesamtsicht aller Menschen einer Zeit zum Ziel hatten. Der Werkblock Familienbilder von Christian Borchert ist hier zu nennen, in dem ein vollständiger Querschnitt der Bevölkerung angestrebt wurde. Es zeigte sich, dass es in der DDR eine erstaunliche Nähe zumindest im Erscheinungsbild der unterschiedlichen Schichten gab. Auffallend ist zudem, dass die Wohnumgebung in Borcherts Gruppenbildern eine bislang selten gesehene Rolle spielt.

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Und nun legt Lars Nickel Bildnisse aus der „gehobenen Mittelklasse” vor, in denen ebenfalls die Wohnungen bedeutsam sind. Porträts in denen die häusliche Umgebung der Abgebildeten mit erfasst ist, sind nicht gänzlich neu. Man denke an Tina Barney (The Europeans) oder Dayanita Singh (Privacy). In beiden Arbeiten jedoch haben wir es mit Menschen zu tun, die eher den „oberen Zehntausend” angehören, wie eine gängige Floskel lautet. Ich gehe so weit zu sagen, dass Lars Nickel bisher nicht gekannte Ansichten und Einsichten bietet. Zu diesem Thema kam er aus einem, anderen Fotografen nicht unbekanntem Grund: dem Zwang zum Geldverdienen. Er fuhr nicht Taxi sondern ergriff den Beruf seines Vaters, nämlich Fensterputzer. Dadurch kam er in Kontakt mit der Bevölkerungsschicht, die ich etwas unscharf angedeutet habe und für die er das schöne Kürzel Beletage fand. Ehedem wohnten Anwalt, Ärztin oder Amtsrat in jener als besonders vornehm angesehenen ersten Etage von Mietshäusern. Lars Nickel trat hier als willkommener Handwerker ein, der zudem in regelmässigen Abständen ins Haus kam, und weil er ein freundliches, einnehmendes Wesen hat, ergab sich Vertrautheit. Die erlaubte es ihm, seinen anderen Beruf ins Spiel zu bringen, den des Fotografen. Gern willigten viele seiner Kunden ein, von ihm in ihren eigenen Räumen porträtiert zu werden. So freundlich, wie sie uns auf Lars Nickels Bildern entgegen treten, habe ich die Menschen auf fotografischen Porträts selten gesehen. Das häufige leise Lächeln auf den Gesichtern ist ebenfalls dem Fotografen zu verdanken.

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Besonders spricht für Lars Nickel, dass die Porträtierten allesamt gelassen und entspannt sind. Das liegt sicher auch daran, dass sie sich in vertrauter Umgebung befinden. Ein wenig wird man an Bühnen eines Zimmertheaters gemahnt, auf denen die Personen auftreten. Manchmal scheint ein pfiffiger Bühnenbildner am Werk gewesen zu sein, etwa wenn die Filialleiterin neben einem prächtigen Kühlschrank steht, oder eine Büroangestellte an einem Kardinals-Sessel; zwei der vielen Bildern an den Wänden sind, total weiss; ein Rahmen ist leer. Manchmal erscheinen Person, Beruf und Wohnungseinrichtung auch eigenartig inkongruent, unerklärlich, da möchte man anrufen und nachfragen. Es ist sozusagen slow photography nicht nur wegen des Mittelformats und der Kamera auf dem Stativ. In den Gesichtern und der Haltung ist Ruhe eingekehrt, was zu ebenso ruhiger und nachdenklicher Betrachtung aufruft.

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Wie bei allen guten Porträts empfinden wir als Aussenstehende keinerlei Peinlichkeit, in fremde Umgebung eingedrungen zu sein, sondern fühlen uns dank der Kunst Lars Nickels ebenfalls als willkommene Besucher, Begleiter des Fotografen, die gern hinsehen und sich umschauen dürfen. Stärker noch als Kleidung zeigt eine Wohnung viel vom Charakter eines Menschen. Eine Hebamme sagt es: „Meine Wohnung, das bin ich.“ Im Anhang des Buches finden sich kurze Texte, die den Fotografierten sinnvoll erschienen, ihren Porträts hinzu zu fügen.

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Dass die Wohnungen zwar nicht das Hauptaugenmerk darstellten, jedoch beachtenswerter Bestandteil waren, erweist sich auch bei den von Lars Nickel „Stills” genannten Bildern, die lediglich Zimmerecken ohne Menschen zeigen. Sie skandieren im Buch auf angenehme Weise den Bildfluss der Porträts. Vor rund 50 Jahren hat Sarah Haffner das Bild eines Bücherregals gemalt, meines Regals – natürlich nicht, aber viele der Bücher standen auch bei mir, und ich fühlte mich ertappt. Wer findet in den Beletagen seinen Ikea-Kasten, seine Stahlrohrstühle, seine Designer-Leuchte? So können wir die Fotografien von Lars Nickel auch lesen: als Psychogramme unserer selbst, von unseren Freunden, Eltern und Geschwistern.

Dirigiert hat Lars Nickel wenig, nur Hausschuhe mochte er nicht dulden, und so gibt es im Buch viele Barfüssige – wie schön!

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  • Titel: Beletage
  • Untertitel: Ansichten eines Fensterputzers
  • Bildautor: Lars Nickel
  • Textautor: Lars Nickel
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Frank Wonneberg
  • Verlag: Edition Braus
  • Verlagsort: Berlin
  • Erscheinungsjahr: 2014
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 96
  • Bindung: illustriertes Hardcover
  • Preis: 29,95 Euro
  • ISBN: 978-3-86228-106-0

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