Fotografische Leidenschaften

Eine etwas andere Geschichte der Fotografie

FotogrLeidenschaften_a

Das Buch „Fotografische Leidenschaften“ wurde mir von einem Freund angetragen mit dem Hinweis, er könne nicht sonderlich viel damit anfangen, und in der Tat ist der Titel zunächst verwirrend: Fotografische Leidenschaften? Geht es um die Leidenschaften zu fotografieren oder das Fotografieren von Leidenschaften, vielleicht um die Leidenschaft, Leidenschaften zu fotografieren? Um es gleich zu sagen, diese kleine, gewollte Irritation sollte niemanden, der ernsthaft an Fotografie interessiert ist, davon abschrecken, das Buch zur Hand zu nehmen.

Die Publikation versammelt die Ergebnisse einer Tagung mit dem gleichen Titel, die Ende 2004 in Braunschweig und Braunlage stattfand und thematisch von zwei Ausstellungen flankiert war: Zum einen die Ausstellung des Herzog Anton Ulrich Museums über das Thema „Barocke Leidenschaften“, die um die Passioni im Werk von Rubens kreiste. Zum Anderen die Ausstellung „Aufruhr der Gefühle“, die zeitlich und konzeptionell verknüpft vom Museum für Fotografie Braunschweig durchgeführt wurde. „Der Band versteht sich als Beitrag zur wissenschaftlichen Erarbeitung der geschichtlichen und medialen Schlüsselfunktionen der Fotografie für unsere Vorstellungen und Umgangsweisen mit menschlichen Leidenschaften“ und spannt einen Bogen vom ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bis heute.

23 Einzelbeiträge von 22 Autoren decken thematisch ein breites Spektrum ab. Und man kann tatsächlich Neues erfahren, auch wenn es erst einmal so erscheinen mag, als seien hier einige Skurrilitäten der Fotografiegeschichte versammelt: Zum Beispiel beim Beitrag „Die Fotografien der Schrenck-Notzingschen Materialisationsphänomene: Ausdruck sinnlichen Gebarens oder Fixierung ,übersinnlichen Seelenlebens`?“ Oder bei demjenigen von Stefanie Diekmann, „Die Passion von Massachusetts“ über den leidenschaftlichen Fotografen F. Holland Day.

Dennoch lässt sich insgesamt eine schlüssige Systematik erkennen, mit der die Phänomene fotografischer Leidenschaften aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden. Das betrifft die starken Leidenschaften, z. B. im Beitrag über „Nan Goldins Selbstporträt: Nach einer schweren Misshandlung 1984“ oder in demjenigen über „Nobuyoshi Arakis gefesselte Japanerin“. Oder auch im Beitrag „Arretierte Tränen, Selbstreferenz einer Fotografie der starken Gefühle“. (Das tränenreiche, gleichwohl aussagekräftige Titelbild des Bandes „Mme Yvonde als Lady Malcolm Campbell als Niobe“ ist übrigens thematisch diesem Beitrag entnommen). Doch auch schwache Leidenschaften kommen zu ihrem Recht: Z. B. in Timm Starls Beitrag „Vom Lächeln“. Indem außerdem nach den Grenzen Fotografischer Leidenschaften in Formen der Affektkontrolle oder der Leidenschaftslosigkeit gefragt wird, wird wissenschaftlich vorbildlich ausgelotet, wie ein Thema mittels seiner Grenzen präzisiert werden kann: Z. B. im Beitrag von Friedrich Weltzien über „Die Bildtechnik der Höflichkeit. William Fox Talbots kontrollierte Affekte“. Oder in demjenigen von Karl Sierek: „Warburgs Beitrag zur Zähmung der Leidenschaften in der Fotografie“. Auf ähnliche Weise werden die Grenzen des Themas im Beitrag von Peter Greiner ausgelotet: „Fotos, die man nicht zeigt. Probleme mit Schockbildern“. Im Beitrag von Joanna Bark schließlich wird „Die Leidenschaft des Films für das Foto“ am Beispiel von Filmen Truffauts untersucht.

Hat man sich also von der Vorstellung befreit, das Skurrile für das Eigentliche zu halten, wird schnell deutlich, was die Publikation so wertvoll macht: die verblüffende Art und Weise, wie hier das Allgemeine im Besonderen deutlich wird. Dass man also über die einzelnen Beiträge Grundsätzliches über „die Frage nach dem visuellen und diskursiven Umgang mit menschlichen Leidenschaften in ihrer historischen Herleitung und die Frage nach deren Erscheinungsweisen und medialen Bedingungen in der Fotografie erfährt“, wie die Mitherausgeberin Katharina Sykora in ihrer Einleitung schreibt. Und wenn man bereit ist, den Bereich der Affekte nicht als beiläufig abzutun, spürt man beim Lesen, dass es hier um so etwas wie Fotografie sui generis geht.

  • Titel: Fotografische Leidenschaften
  • Untertitel: 
  • Bildautor: 
  • Textautor: diverse
  • Herausgeber: Katharina Sykora, Ludger Derenthal und Esther Ruelfs
  • Gestalter: 
  • Verlag:  Jonas Verlag
  • Verlagsort: Marburg
  • Erscheinungsjahr: 2006
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 287
  • Bindung: Hardcover
  • Preis: 30 Euro
  • ISBN: 9783894453770

Kommentarfunktion geschlossen.