Inszenierte Paranoia

Gregory Crewdsons Fotoinszenierungen 1985-2005

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Die Szenerie wirkt wie erstarrt: Unter einem mächtigen Baum, der weit über die Straße einer dieser typisch amerikanischen Suburbia-Siedlungen ragt, hat ein Taxi angehalten. Die rechte Fondtür ist geöffnet. Zwei Männer sind von hinten im beleuchteten Wagen zu sehen, der seltsam schräg auf der Straße hält. Auf der Straße steht eine junge Frau barfuß im Unterrock, dem Wagen abgewendet. Sie wirft einen langen Schlagschatten. In der Hand trägt sie ihre restlichen Kleidungsstücke. Sie flüchtet nicht. Apathisch starrt abwesend ins Leere. Die Szenerie ist in ein magisches Licht getaucht. Das Foto aus der Serie „Twilight“ bildet das Umschlagmotiv des bei Hatje Cantz erschienenen Katalogs von Gregory Crewdson, der die wichtigsten Serien des 1962 geborenen Fotografen in zeitlicher Reihenfolge versammelt. Schon das Umschlagmotiv präsentiert fast emblematisch den „ganzen Crewdson“: Es ist eine rätselhafte Welt, „die dunkle Seite des amerikanischen Traums“ (Stephan Berg in seiner Einleitung), die Crewdson seit mehr als zwanzig Jahren immer wieder neu erkundet und variiert. Seine Bilder sind perfekte Inszenierungen der kleinbürgerlichen Paranoia der Vorstädte, der Bedrohung der Zivilisation durch die Natur (nein, nicht umgekehrt!). Die seltsame Beziehungslosigkeit der Akteure, ihre statuarische Gestik, ihr meist starrer Blick ins Leere, die diffuse, bewusst künstliche Beleuchtung, die Schärfe der kleinsten und entferntesten Details und die gänzlich sterile Atmosphäre zeitigen eine surreale, übernatürliche Suggestivkraft, der man sich kaum entziehen kann.

Für ein Foto betreibt Crewdson einen Aufwand, als wollte er einen Spielfilm drehen – was der Band eindrücklich dokumentiert: Crewdson lässt Kulissen bauen, beschäftigt einen großen Stab vom Beleuchter bis zur Maskenbildnerin, heuert Filmstars an. Im Laufe der Jahre sind seine digitalen C-Prints stets größer geworden: Es geht schnurstracks in Richtung Kinoleinwand!

Crewdsons Bildrätsel bieten keine Antworten, nur Fragen. Man wird nie erfahren, was diese Frau im Negligé auf der Straße macht, warum der Mann auf einem anderen Bild Grassoden in seinem Wohnzimmer abträgt und wiederum ein anderer kreisrunde Linien in den Rasen mäht. Die Nichtauflösung der Rätsel potenzieren die Spannung und die Verwirrung des Betrachters. Beim einzelnen Bild funktioniert das. Wenn man jedoch – wie im vorliegenden Band – mehr als hundert dieser inszenierten Rätsel nacheinander anschaut, macht sich alsbald eine gewisse Ermüdung breit.

  • Titel: Gregory Crewdson 1985-2005
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Gregory Crewdson
  • Textautor: 
  • Herausgeber: Stephan Berg
  • Gestalter: 
  • Verlag: Hatje Cantz
  • Verlagsort: Ostfildern
  • Erscheinungsjahr: 2005
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 245
  • Bindung: Hardcover
  • Preis: 45 Euro
  • ISBN: 377571622X

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