Kunst oder Dokument?

Arwed Messmer und Annett Gröschner präsentieren die Mauer von Osten

Messmer_Mauer

Der Fotograf Arwed Messmer und die Schriftstellerin Annett Gröschner haben sich seit einigen Jahren als Spezialisten für die Aufarbeitung von historischen Bildbeständen einen Namen gemacht. Zuletzt beschäftigten sie sich mit einem Konvolut von Fotos der Berliner Mauer, aufgenommen von DDR-Grenzsoldaten, also mit Blickrichtung von Ost nach West. Die Mitte der 60er-Jahre entstandenen, in Form von Kleinbildfilmen aufgefundenen Fotos wurden digitalisiert. Messmer setzte dann zusammengehörige Einzelmotive am Bildschirm zu Panoramen zusammen. Es wurde versucht, die Aufnahmen so gut wie möglich zu lokalisieren. Der Blick von aus der DDR auf die Mauer war tabuisiert; niemand durfte so etwas aus nahe liegenden Gründen fotografieren und wenn man es doch tat, dann war es gefährlich oder es war dienstlich wie im vorliegenden Fall. Die Projektidee von Messmer und Gröschner machte neugierig auf das Buch, das zur Ergänzung einer großen, in den Medien im positiven Sinn Aufsehen erregenden Ausstellung erschien.

Das telefonbuchdicke Werk ist auf weiches, dünnes, hellgraues Papier gedruckt und hängt nur am hinteren Vorsatzpapier quasi am seidenen Faden als Offenrückenbroschur im dicken Pappeinband. Die Bindung ist kurios, denn es handelt sich nicht um einen Bindefehler, sondern um Absicht. Die Sollbruchstelle war nötig, um (nach Verlagsangaben) ein „verbessertes Aufschlagverhalten“ zu erreichen. Hätte es dafür nicht eine weniger anfällige und manierierte Lösung gegeben? Neben den Panoramen und Einzelbildern umfasst das Werk weitere Bildkapitel: Wachttürme und Unterstände, anonymisierte Portraitfotos von Grenzpolizisten nebst Auszügen aus Belobigungen, bis ins schemenhafte vergrößerte, nahsichtige Tatortfotos von „Zwischenfällen“, sprich Fluchtversuchen an der Grenze, Lichtpausen von Lageplänen mit Tatortskizzen. Das Buch ist hochformatig, die den Kern des Ganzen ausmachenden Panoramen liegen in gestreckten Querformaten vor. So finden sich meist zwei Panoramen auf einer Doppelseite; der Bund des Buches liegt trotz „verbessertem Aufschlagverhalten“ dazwischen. Die aus Einzelbildern „gestitchten“ Panoramen zeigen dabei die typischen zigarrenförmigen Verzeichnungen. Ortsangaben und einzelne Aussagen aus Grenzprotokollen ergänzen die Fotos. Die erwähnten Wachtürme sind aus ihrem Karteikartenkontext isoliert und erinnern sofort an die Typologien des Ehepaars Becher. Die Personenbilder könnten auch von Christian Boltanski stammen und auch für die Tatorte gibt es genügend Assoziationen; überhaupt erinnert der Band an Boltanskis fragile Künstlerbücher „Menschlich“ (1994) und dessen Schwesterwerk „Kaddish“ (1998). Am Anfang und am Ende gibt es dann noch einige Essays und Hinweise auf den Ursprung des verwendeten Bildmaterials.

Vielleicht war die Ausstellung das bessere Medium für das ganze Projekt. Das dicke Buch jedenfalls, auf das man gespannt sein durfte, enttäuscht. Allein die Ankündigung, das Bilder der Ostseite der Mauer aufgefunden und vorgestellt werden würden, weckt Erwartungen und lässt Gedankenspielen Raum. Durch die veröffentlichte Form jedoch werden diese Realität und mit dem Raum ist es vorbei. Denn: Messmers an sich spektakuläre Mauerpanoramen werden als Dutzendware in grauer, kleinformatiger Reproduktion verschlissen. Gröschners eingestreuten Textausschnitte über Fluchtversuche etc. wirken so, als ob man den Fotos nicht genug Brisanz zutraute, eine Brisanz, die durch die flaue, kleinkarierte, auf Vollständigkeit zielende Präsentation in der Tat nicht zum Tragen kommt. Warum sind dann die Teile à la Becher und Boltanski auch noch angefügt, warum die Tatorte? Gut, das Material war da, aber musste auch alles im Buch verwendet werden? Wenn unbedingt, warum dann nicht in einem mehrbändigen Werk? Warum nicht die Panoramen groß und lakonisch statt vollständig, klein und grau. Wenn schon klein und grau, warum dann nicht so nah wie möglich in einem rekonstruierten Verwendungszusammenhang der Aufnahmezeit, also bürokratisch, aktenmäßig, auf Karteikarten?

Die beiden Autoren häufen einen riesigen Berg an Dokumenten an und lassen dem Betrachter praktisch keine Chance mehr auf Imagination. Warum das so sein muss, erschließt sich nicht. Die Bilder treten als Beweise auf, beweisen aber nichts, denn die ganze Arbeit mit den nachträglich produzierten Panoramen ist ein Werk der Konzeptkunst, wenn auch vor realem Hintergrund. Das Schlingern zwischen Dokument und Kunst bekommt dem Buch nicht. Dabei gab und gibt es etliche überzeugende Fotobuch-Projekte über die Mauer, wenn auch bislang immer mit dem Blick von West nach Ost. Den Anfang machte ein schmales Künstlerbuch von Shinkichi Tajiri, das nur ein Band aus winzigen Kleinbild-Kontaktaufnahmen enthält.* Dieses Konzept entwickelte eine unglaubliche visuelle Sprengkraft, ohne dass man auf den einzelnen Bildern viel erkennen könnte. Später hatte sich Tajiri dazu entschlossen, die Bilder zu vergrößern und in einem dicken Wälzer nochmals zu veröffentlichen.** Hier wurde nichts zusammengesetzt, sondern die Überlappungen der einzelnen Bilder blieben als irritierende Elemente bestehen. Der Blick schweifte nicht in panoramatische Weiten ab, sondern konzentriert sich auf die Details.*** Nicht publiziert ist leider bis heute die Arbeit von Burkhard Maus und Philipp J. Bösel.**** Auch wenn sich die Blickrichtung „aus anderer Sicht“ bei Messmer und Gröschner mit den verwendeten DDR-Grenztruppenfotos in ungeahnter Weise umgekehrt hat: Aus den früheren Arbeiten zum Thema hätte man lernen können, das weniger manchmal mehr ist.

 

* Shinkichi Tajiri, The Wall Die Mauer Le Mur, Baarlo 1971

** Shinkichi Tajiri, The Berlin wall 1969-1972, Text Michael Haerdter, Baarlo 2005

*** Tajiri experimentierte ebenfalls mit Panoramaaufnahmen der Mauer.

**** dazu: Thomas Köster in der FAZ 8.5.2008 und Christoph Schaden, Wall. Photo. Book., in: PhotoResearcher Nr.12/2009, S.8-15

 

  • Titel: Aus anderer Sicht
  • Untertitel: Die frühe Berliner Mauer
  • Bildautor: 
  • Textautor: Greg Bond, Olaf Briese, Florian Ebner, Matthias Flügge, Annett Gröschner, Arwed Messmer
  • Herausgeber: Annett Gröschner, Arwed Messmer
  • Gestalter:  Carsten Eisfeld
  • Verlag: Die frühe Berliner Mauer
  • Verlagsort: Ostfildern
  • Erscheinungsjahr: 2011
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 742
  • Bindung: Offenrückenbroschur in illustriertem Hardcover
  • Preis: 49,80 Euro
  • ISBN: 978-3-7757-3207-9

6 Antworten zu Kunst oder Dokument?

  1. In der Zeit vom 21. bis 29.Juni 1984 entstand das photographische Werk “Die vermessene Mauer”. Es sah vor, die graphische Auseinandersetzung mit der ‘Berliner Mauer’ vom Westen aus zu suchen. Bei der Exposition | die vermessene mauer | handelt es sich um eine 1984 entstandene konzeptionelle photographische Arbeit von Philipp J. Bösel, die er mit Burkhard Maus realisieren konnte.

  2. … danke für den Hinweis, vielleicht sehen wir ja „Die vermessene Mauer“ irgendwann als Ausstellung oder Buch?

    • Wir suchen immer noch einen Verlag, der “die vermessene mauer” in ihrer Komplexität publizieren könnte. In Deutschland wurden die Photographien im Rahmen einer Ausstellung noch nie gezeigt. Aber im Ausland…

      1985 Århus Kunstmuseum Dänemark (komplett)
      2005 Photo-Biennale “Pingyao International Photography Festival (PIP) in China (12 Aufnahmen)
      2009 öffentlicher Raum “Place du Luxembourg” und “Place de l´Albertine” Brüssel, Belgien (44 Aufnahmen)

      2014 (25 Jahre Mauerfall) ?

  3. Das Buch “DIE BERLINER MAUER 1984 VON WESTEN AUS GESEHEN” mit 1157 Aufnahmen
    limitert auf 1157 Exemplare inklusive ein Mauer-Foto aus dem Buch (jedes Photo ist anders). Erscheint beim Verlag Kettler am 9.November 2014

  4. Pingback: Als die Mauer noch stand | kasseler fotobuchblog

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