Meister des Mysteriösen

Der Fotograf Saul Leiter erlebt mit fast 90 Jahren sein Karrierehoch

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Auf den magischen Moment musste Saul Leiter ziemlich lange warten. Um genau zu sein: 70 Jahre. Dann entdeckte der Galerist Howard Greenberg, dass Saul ein geniales künstlerisches Werk geschaffen hatte. Zu diesem Zeitpunkt fotografierte und malte der New Yorker schon ein ganzes Menschenleben lang. Was war in der Zwischenzeit passiert? Dirk Luckow, Leiter der Deichtorhallen Hamburg und die Kuratoren Ingo Taubhorn und Brigitte Woischnik haben sich mit dieser Frage intensiv beschäftigt. Die Retrospektive des heute 88-jährigen Saul Leiter ist nun im Haus der Photographie in Hamburg zu sehen. Die begleitende Monografie zeichnet sein Leben akribisch nach. Also: Was hatte der New Yorker, 1923 geboren, bis Anfang der 1990er Jahre im Verborgenen erreicht?

Saul Leiter hatte mal eben Wegmarken gesetzt. Als alle anderen Fotografen an exotische Orte fuhren, um tolle Fotos zu machen, durchstreife Leiter die Straßen des East Village, seines New Yorker Wohnviertels. Anfangs fotografierte er schwarzweiß, ungewöhnlich abstrakt, ungewöhnlich malerisch. Als er zur Farbe wechselte, schrieb man das Jahr 1946. Leiter war ziemlich früh dran, ziemlich avantgardistisch. Während sich andere Fotografen der Genrefotografie widmeten, verblüffte Leiter mit einem Mix aus Street Life, Porträt, Still Life und Modefotografie. Als Maler und andere bildende Künstler über die Fotografie noch verächtlich lachten, ließ Leiter, der selbst ununterbrochen malte oder fotografierte, die Kunstformen ineinanderfließen – und lieferte mit jeder Farbfotografie das Gemälde gleich mit.

Keine schlechte Lebensbilanz. Nur warum, die Frage sei erlaubt, fand dies in aller Stille statt? Saul Leiter verweist, wenn man ihn danach fragt, ironisch auf sein Talent für schlechtes Timing. Zwei Belege dafür? Als seine außergewöhnlichen Modestrecken u.a. in Harper’s Bazaar erschienen, war ein anderer längst Star des Metiers: Richard Avedon. Als die künstlerische Farbfotografie museal wurde, stand vor allem ein anderer im Rampenlicht: William Eggleston. Dessen Karriere kam 1976 mit einer Einzelausstellung im MoMA rasant in Fahrt, und Eggleston gilt bis heute als Wegbereiter der künstlerischen Farbfotografie. Doch stimmt dies eigentlich? – Als Leiter die Farbfotografie für sich entdeckte, war Eggleston gerade einmal sieben Jahre alt.

Kein schlechter Beweggrund, sich Leiters frühe Farbfotografien einmal näher anzusehen. Er bewegt sich da zwar im Genre der Street Photography, doch er arbeitet nicht dokumentarisch, nicht erzählerisch. Ja, es ist sogar fraglich, ob sich Saul Leiter überhaupt für Menschen interessiert. Bedeutsamer ist eigentlich, was er gerade nicht zeigt, im Verborgenen und Mysteriösen lässt. So fotografiert er mit Vorliebe durch beschmierte, beschlagene oder schneebedeckte Fenster- und Autoscheiben. Die Passanten dahinter? Sind nur zu erahnen. Ohnehin geht er oft bei schlechtem Wetter vor die Tür. Ein Regenschauer, ein Schneesturm? Perfekt. Die riesigen, meist knallroten Regenschirme, hinter denen sich die Menschen verbergen, verleihen dem Foto erst den letzten Schliff.

Auf Traditionen und Regeln pfeift Leiter sowieso. Manchmal arbeitet er mit solch starken Unschärfen, dass Passanten, grellbunte Schirme, Ampeln, fahrende beleuchtete Autos wie Farbflächen ineinander laufen. Dann fällt einem natürlich wieder ein, dass Leiter nicht nur Fotograf, sondern auch Maler ist. Die Monografie, von Detlev Pusch übrigens wunderbar gestaltet, zeigt konsequenterweise nicht nur Schwarzweiß- und Farbfotos, sondern auch Gouachen, Aquarelle und Skizzenbücher. Zwei davon sind – in kleinerem Format und mit anderer Papierqualität – quasi als Buch im Buch eingefügt.

Saul Leiter ist seit Jahren gefragt wie nie: Aber der Wirbel geht ihm mitunter gehörig auf den Geist. Irgendwie hatte er sich zu sehr an die Stille gewöhnt. Im Buch stößt man auf dieses Zitat: „Vielleicht bin ich doch lieber wieder ein Erfolgloser. Das war eine schöne Zeit.” Ein talentierter Humorist ist Leiter also auch.

 

  • Titel: Saul Leiter
  • Untertitel: Retrospective
  • Bildautor: Saul Leiter
  • Textautor: Brigitte Woischnik, Carrie Springer, Christine Abbt, Ingo Taubhorn, Margit Erb, Rolf Nobel, Ulrich Rüter, Vince Aletti
  • Herausgeber: Brigitte Woischnik, Ingo Taubhorn
  • Gestalter: Detlev Pusch
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg
  • Erscheinungsjahr: 2012
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 296
  • Bindung: Leinen, illustrierter Schuber
  • Preis: 49,90 Euro
  • ISBN: 978-3-86828-258-0

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