Nichts als die Wahrheit?

Philip-Lorca diCorcia ist ein Meister der subtilen Inszenierung

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Amoralisch, zynisch, ekelhaft: Philip-Lorca diCorcia flog einiges um die Ohren, als er seine Serie Hustlers 1993 im Museum of Modern Art präsentierte. Der Grund für die Empörung? Der US-amerikanische Fotograf hatte Strichjungs gekauft, aber nicht um sich sexuell befriedigen zu lassen. Er zahlte, damit sie für Fotos posierten, und er gab keinen Dollar mehr als jeder andere Freier auch. Nach einer Aufreger-Story klingt das zunächst nicht. Pikant ist allerdings ein Detail: DiCorcia hatte für sein Projekt eine staatliche Stiftung angezapft und sich frech über deren ethische Grundsätze hinweggesetzt. Das erzürnte die Kulturfunktionäre. Die Anhänger der traditionellen „Street Photography“ hingegen provozierte etwas anderes: DiCorcia hatte jedes Bild bis ins Detail arrangiert. Schließlich glaubte er längst nicht mehr daran, dass man die Welt zeigen könne, wie sie wirklich sei.

Dieser Skeptizismus reizte die Kuratorin Katharina Dohm. Sie besuchte diCorcia mehrfach in New York – und konnte ihn für ein beachtliches Vorhaben gewinnen: die erste Überblicksausstellung in Europa, in diesem Sommer groß und bildmächtig inszeniert in der Frankfurter Schirn. Auch der Ausstellungskatalog kreist ganz um die sechs Fotoserien, die in den Jahren 1975 bis 2012 entstanden sind; die Herausgeber verzichten auf ausschweifende Essays.

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„Ich bin nur sicher, dass das, was wir in dieser Welt sehen, vor allem in den Medien, trügerisch ist. Meine Arbeit basiert auf der Annahme, dass nichts neu und nichts wirklich ist“, meint Philip-Lorca diCorcia. Während andere Fotografen versessen daran arbeiten, Realität zu dokumentieren, versucht der 62-Jährige dies gar nicht erst. Er inszeniert – und zwar so subtil, dass man das Arrangement nicht auf den ersten Blick erahnt; kein Aufwand ist ihm zu groß dafür. Für die Serie Hustlers  (1990-1992) reiste diCorcia nach Hollywood, suchte geeignete Settings, ließ seine Assistenten bedeutungsschwere Posen einnehmen – und schoss Testaufnahmen davon. Erst dann zog er los, um sich echte Strichjungs zu suchen. Und die hatten nur eines zu tun: die vorgedachten Szenen exakt nachzustellen.

Auch die Serie Streetwork  (1993-1999) entstand nach diesem choreografischen Prinzip. In Metropolen wie London, Paris, New York oder Tokio baute diCorcia an belebten Orten mit Kamera und Lichtstativen eine Situation, die ihm zu prägnanten Szenen verhalf. Akribisch geplant auch das: Den vorbeieilenden Menschen fiel gar nicht auf, dass sie abgelichtet wurden. Selbst die vermeintlich autobiografisch gefärbte Serie A Storybook Life  (1975-1999) ist kunstfertig inszeniert. Familienmitglieder und Freunde diCorcias sieht man hier im vermeintlichen Alltagstrott – im Hintergrund wirkte der Künstler selbst und behielt wie ein Filmregisseur alle Fäden in der Hand. Das echte Leben? Hat kaum mehr Wahrheitsanspruch als ein C-Movie.

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Philip-Lorca diCorcia ist beileibe kein intellektuelles Leichtgewicht. Er hat in New Haven und Boston studiert und dort sein kritisches Denken geschult. Fortwährend reflektiert er Fragen wie: Kann Fotografie die Welt noch beglaubigen? Gibt es objektive Wahrheit überhaupt? Mit seinem Prinzip, Alltagssituationen zu suchen und diese durch geschickte Eingriffe szenisch zu übertreiben, hat er eine Nische besetzt. Schaut man die Serien an, entfaltet sich daraus ein beachtliches Panorama.

Vorschriften ließ sich diCorcia nie machen, mittlerweile muss er sich jedoch einem Umstand fügen: als Straßenfotograf ist er verbrannt. 2005 verklagte ihn Erno Nussenzweig, der unfreiwillig auf ein Foto gelangt war, auf 1,6 Millionen Dollar. Die Freiheit der Kunst? Ist seither Ermessenssache findiger Juristen.

  • Titel: Philip-Lorca diCorcia
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Philip-Lorca diCorcia
  • Textautor: Katharina Dohm, Geoff Dyer, Christoph Ribbat
  • Herausgeber: Katharina Dohm, Max Hollein, Hendrik Driessen
  • Gestalter: Box, New York
  • Verlag: Kerber
  • Verlagsort: Bielefeld
  • Erscheinungsjahr: 2013
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 208
  • Bindung: Klappenbroschur
  • Preis: 36 Euro
  • ISBN: 978-3-86678-835-0

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