So let’s try to stay out of Kommerz

Pascal Anders macht etwas anders

Anders_Teaser

Wenn Sie das heute zu Hause lesen sollten, verpassen Sie die Fotobuchfestivals in Bristol, Peking und Wien, die alle am Wochenende rund um den 11. Juni 2016 stattfinden. Niemand wird auf allen drei Festivals gewesen sein, selbst zwei zu besuchen, wäre eine logistische Meisterleistung, wie sie nur der damals omnipräsent erscheinende Fußballkaiser Franz (Beckenbauer) bei irgendeiner Meisterschaft vollbrachte…

Für alle, die wie ich, daheim geblieben sind, heute ein Hinweis auf die Arbeit von Pascal Anders. Hermann Lohss hatte neulich ein Interview mit dem französischen Fotografen Pacal Anders über sein Buch Podmoskovye veröffentlicht. Das machte mich neugierig auf einen mir vorher völlig unbekannten Fotografen, der partout seine Fotobücher verschenken will und noch nicht einmal das Porto ersetzt haben möchte. Ich habe mir also die beiden neuesten und das älteste Buch bestellt, wollte zahlen, durfte aber nicht. Auf der unter einem Motto von Tati stehenden Website des Künstlers sind Preise genannt, wenn man ihn aber direkt fragt, sind dieses Angaben ohne Bedeutung: „So let’s try to stay out of Kommerz“ (Zitat aus dem genannten Interview).

Anders_Umschläge

Anders_Cover

Ich erhielt also nach ein paar Tagen drei braune Briefumschläge mit den Büchern, die das Zuschauen und den Zuschauer thematisieren, das Beobachten und, in dem älteren Band, die Berliner Mauer. Die Bücher haben alle das gleiche Format, sind in Digitaldruck hergestellt und sind mit einer ISBN versehen. Sie beinhalten Fotos, bei denen es nicht um den entscheidenden Augenblick geht, nicht um technische oder gestalterische Meisterschaft, sondern um ein Thema, das den Fotografen bewegt, und das er in Form eines Buches bearbeiten wollte. Die grauen Reste der Berliner Mauer sind dabei noch am ehesten als Fotoarbeit im traditionellen Sinn zu erkennen. Passend grau auch der Druck des Büchleins, konterkariert von einem lose beiliegenden Hochglanzabzug eines der Motive. Der Band mit dem roten Cover versammelt Bilder, die aus Überwachungskameras in einer Vorstadt Moskaus stammen, und die für eine beängstigende Obsession zum Kontrollieren von Nachbarn, Wohnungen, Passanten, Straßen … stehen. Der Textkommentar auf einer lose beiliegenden Postkarte stellt die Beziehung zu Foucault her. Das Buch mit dem bebrillten Kinopublikum auf dem Cover enthält bis auf dieses Bild und eine weitere Beilage (mit einem unscharfen Portrait, es könnte Guy Debord zeigen) keine Fotos, sondern im Stil eines gravierenden technischen Problems („Glitch“) grafisch verfremdete Reproduktionen von Textseiten von Debords Buch Society of the spectacle. Es bleiben einzelne Sätze in Erinnerung.

Anders_Mauerreste

Anders ist in seiner unkonventionellen, zuweilen ironischen Art eher Konzeptkünstler als Fotograf, aber wen interessieren schon solche Kategorisierungen, wo doch Künstlerbücher und Fotobücher schon immer eng verwandt waren. Worauf will Anders hinaus? Die Bücher sind von der Idee her, inhaltlich und gestalterisch von hoher Qualität. Indem er viele gängige Standards der aktuellen Fotobuchproduktion berücksichtigt (Eigenarbeit und -vertrieb, winzige Auflagen, Beilagen zum Aufwerten), er aber gleichzeitig die Bücher, die Ware, sondern solange der Vorrat reicht, verschenkt, und das nicht nur an Rezensenten, sondern an alle Interessenten, stellt er das geschäftige Treiben des Fotobuchmarktes auf den Kopf. Seine Werke sind in völliger Unabhängigkeit von verlegerischen oder kommerziellen Überlegungen entstanden und verbreiten sich durch Empfehlungen (wie diese). Ist Anders ein Menschenfreund, ein Kritiker des Kommerzes, ein gewitzter Marketingstratege oder ein strenger Konzeptkünstler? Vermutlich von allem etwas.

Anders_Podmoskovye

Was wird Anders machen, wenn er es auf diese Weise zu einer gewissen Bekanntheit bringen sollte? Wird er dann die gewählt Form verlassen und seine Arbeiten in großen Auflagen in Zeitungsdruck publizieren und weiterhin verschenken (wie es Alec Soth, Pieter Hugo und andere schon gemacht haben)? Wird er damit beginnen, die Bücher ab der zweiten Auflage tatsächlich zu verkaufen? Wird er künftig wenigstens das Porto berechnen? Wie wird er auf die preistreibende Wirkung des Sammlermarktes reagieren, wenn plötzlich aus den einst gratis abgegebenen Büchern gesuchte Stücke für die Fotobuchsammler werden? Und: Auf welchem Fotobuchfestival wird man ihn zuerst als Referenten sehen? Wer lädt diesen kritischen Fotografen ein, der etwas völlig anders macht als die anderen?

Anders_Spectacle

PS Den schon lange vergriffenen Band Mauerreste hat Pascal Anders im Februar 2020 in einer zweiten Auflage vorgelegt.

 

Pascal Anders
Mauerreste. The Berlin Wall. 20 Years Later
Softcover, eine Beilage
Eigenverlag, 2010
ISBN 978-2-918837-00-8
2. Auflage, 2020
ISBN 978-2-918837-24-4

Pascal Anders
Podmoskovye
144 Seiten, Softcover, eine Beilage
Eigenverlag, 2015
ISBN 978-2-918837-13-8

Pascal Anders (Hg.)
Society of the Spectacle
142 Seiten, Softcover, zwei Beilagen
Eigenverlag, 2015
ISBN 978-2-918837-17-6

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