Tausend Blicke

Tausend Blicke richten sich auf den Leser. Man wird das Gefühl nicht los, von unzähligen Augenpaaren fixiert und taxiert zu werden. Den Betrachter treffen offene, anrührende Kinderblicke zwischen Skepsis, Neugier und Zurückhaltung.

Der Autor der in zwei sich ergänzenden Büchern enthaltenen eindrucksvollen Fotos heißt Emil Brunner (1908-1995), war ewig und in aller Welt unterwegs, machte Bildreportragen, Luftaufnahmen, führte zwischendurch mit seiner Frau ein Fotogeschäft, war begeisterter Bergsteiger und ein begnadeter Einzelgänger. Brunner war während des Zweiten Weltkriegs als Schweizer auf sein Heimatland verwiesen und hinterließ eine 1943 und 1944 entstandene umfangreiche Serie von Kinderportraits aus zwölf Bergdörfern Graubündens. Selten erscheinen Kinder auf Lichtbildern so ernst als Individuen genommen wie auf denen von Brunner. Die Kinder kamen an einer Hausecke, vor einem Scheunentor oder an einer sonstwie geeigneten Stelle im Dorf zusammen und wurden dort von Brunner in schneller Folge einzeln oder in Gruppen abgelichtet. Die immer wiederkehrenden bzw. ähnlichen Hintergründe deuten diese Arbeitsweise an. Ob Brunner ein so guter Menschenkenner und Fotograf war, dass er die erreichte hohe Bildnisqualität dauerhaft durchhalten konnte oder ob es die unbefangenen, selbstbewussten Kinder selbst waren, die ihm keine andere Wahl ließen, sie so und nicht anders zu fotografieren, muss offen bleiben.

Die Monografie „Tausend Blicke“ enthält neben einer Einführung zu Werk und Biografie Brunners noch Lebenserinnerungen von einigen der portraitierten Kinder. Erika Hössli hat die heute im Rentenalter stehenden aufgespürt, befragt und die Aussagen unter bestimmten Themen zusammengefasst (Wohnen, Arbeit, Heimat, Tod, Kleidung…). Die Statements sind anonymisiert und durch einen leichten Versprung der Text-Absätze voneinander geschieden. Ob und wie der Fotograf die Aufnahmen vermarktete und welche Idee hinter der umfangreichen Serie steckte, wäre noch zu klären und kann jetzt anhand des begleitenden Materialbandes noch besser untersucht werden. Nachdem die Monografie erschienen war und diese aufgrund ihrer Qualität großen Anklang gefunden hatte, entschlossen sich die Herausgeber, in einem zweiten Band unter dem Titel „Bergkinder“ auch noch die komplette Serie zu veröffentlichen. Abgedruckt wurde der gesamte Bestand von 1862 Fotos anhand neu angefertigter, für das Buch in Layout und Bildqualität überarbeiteten „Kontaktbögen“ von maximal je 12 Rolleiflex-Negativen (Bildformat im Buch je Aufnahme 5,8 x 6 cm). Die Bilder wurden, wie vom Fotografen vorgegeben, in der Reihenfolge der auf die Negative geschriebenen Nummern und damit automatisch nach den Aufnahmeorten geordnet.

Anhand des Materialbands ließe sich nunmehr die für die Monografie getroffene Auswahl überprüfen. Erst bei Durchsicht des Gesamtbestandes offenbart sich, dass Brunner nicht nur Kinder fotografiert hatte, sondern auch Erwachsene. Eine relativ große Untergruppe gilt der Feldarbeit. Architektonische oder landschaftliche Hintergründe kommen aufgrund der fehlenden Ausschnitte auf den Kontaktbögen deutlicher zur Geltung.

Die unprätentiösen Aufnahmen von 1943/44 lassen eine Intensität und Wärme spüren, die den Leser im Verbund mit den Kindheitserinnerungen der Dargestellten von der ersten bis zur letzten Seite gefangen hält. Der begleitende Materialband mit der gesamten Serie lässt einen selten gewährten Einblick in ein Fotografenarchiv zu und verrät so ein wenig von der Arbeitsweise des Fotografen. Die in den sorgfältig gedruckten und gestalteten Editionen erfolgte Offenlegung des Gesamtwerks geht zum Glück nicht so weit, dass die Kinderbilder etwas von ihrer magischen Präsenz verlören.