Viele Fragen – keine Antworten

Henrik Spohlers neue Serie Hypothesis

Spohler_Cover

Das Vergangene und das Vergehende: Totenschädel und Sanduhr sind seit Jahrhunderten in der Kunst Symbole dafür, dass der Mensch keine Gewalt über das Leben hat, auch wenn er nach Sicherheit, Kontrolle und Macht strebt. Im Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Abteilung Humanevolution in Leipzig, wird mit modernsten Computertomografen versucht, dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen. Dazu liegt ein Schädel im Zentrum einer aseptisch wirkenden dunklen Apparatur. Links eine roboterhafte Vorrichtung, rechts eine Art Bildschirmplatte. Für seine Serie Hypothesis hat Henrik Spohler auch eine Caesiumfontänen-Uhr in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig fotografiert. Das moderne Pendant zur altertümlichen Sanduhr sieht aus wie ein vergoldeter Heizkessel, der mit dutzenden Apparaten verkabelt ist. Der Mensch spielt weder hier noch sonst eine Rolle, Menschen sind auf diesen 45 Bildern nicht zu sehen. An seiner Stelle steht die Technik für Perfektion, Vollkommenheit und Beherrschung.

Spohler_3

Hypothesis reiht sich nahtlos und konsequent in Spohlers vorangegangene, in Buchform publizierte Serien wie The Third Day, In Between oder Dataflow ein, bei denen es um die Agrarindustrie, die weltweiten Waren-Logistikströme und die Manifestationen des Digitalen in der Informationsgesellschaft geht. Nun vermittelt der 1965 in Bremen geborene Fotokünstler einen beispielhaften Einblick in die heutige Naturwissenschaft und Grundlagenforschung. Seine Bilder zeigen Gesteinsproben, Bohrkerne, Radio- und Spiegelteleskope, gigantische Antennenanlagen, Satellitentechnik, Teilchenbeschleuniger, Reaktoren, Forschungs- und Versuchslabore, Simulatoren, Höchstleistungsrechner, Computertomografen, Roboter. Das alles erscheint zumeist schattenlos, tiefenscharf, klinisch rein, immer leicht überblendet und dadurch bewusst kühl, sachlich und unnahbar.

Spohler_4

Spohler_5

Den vier Kapiteln – „Zeit“, „Raum“, „Materie“, „Leben“ – hat Spohler ein Zitat von Albert Einstein vorangestellt: „Ich glaube an Intuition und Inspiration. Fantasie ist wichtiger als Wissen.“ Wo aber steckt in diesen rationalen Apparaturen die Fantasie? Welchem Zweck dient das Sammeln von Daten? Was bedeutet es zu wissen, dass in unerreichbaren Galaxien eventuell Leben existieren könnte, die Zeit auf die Femtosekunde genau gemessen werden kann oder Menschen vor 300.000 Jahren so aussahen wie wir? Spohler wirft mit seinen Fotos viele Fragen auf. Antworten gibt er bewusst nicht. Das gilt übrigens für alle seine Serien, was nicht gegen sie spricht. Ganz im Gegenteil. Sie regen nicht die Fantasie an, aber das Nachdenken.

Spohler_2

 

  • Titel: Hypothesis
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Henrik Spohler
  • Textautor: Urs Stahel, Inke Suhr
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Stephan Fiedler
  • Verlag: Hartmann Books
  • Verlagsort: Stuttgart
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: englisch, deutsch
  • Format: 30,5 x 23 cm
  • Seitenzahl: 112
  • Bindung: illustriertes Hardcover
  • Preis: 34 Euro
  • ISBN: 9783960700401

Kommentarfunktion geschlossen.