Jörg Colberg (Jg. 1968) stammt aus Deutschland und lebt heute in den USA. Er zählt zu den wichtigsten Autoren zum Thema Fotobuch. Er rezensiert seit vielen Jahren Neuerscheinungen, schreibt Essays oder Vorworte und unterhält einen der weltweit einflussreichsten Fotobuchblogs. Colberg hat zudem ein Buch darüber verfasst, was man beim Konzipieren und Produzieren von Fotobücher beachten sollte (Understanding Photobooks: the Form and Content of the Photographic Book, 2016). Dementsprechend gespannt war ich auf Colbergs Band Vaterland, mit dem er jetzt den Sprung von der Theorie in die Praxis gewagt hat. Colberg über seine Intention: „I intend the book to be what in German is called a Stimmungsbild — a metaphorical image expressing a mood.“ Das schmale Fotobuch ist „den Opfern rechtsextremer Gewalt in Deutschland gewidmet“. Zunächst fällt auf, dass kein Text vorhanden ist – bis auf die Widmung und einen statistischen Teil mit Zahlen von Todesopfern des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust einerseits und Opfern von Übergriffen auf „Asylzentren“ und einer Auswahl von Wahlergebnissen der AfD andererseits. Damit ist das Ganze in einen fest umrissenen Kontext gestellt. Die Fotos entstanden nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen; wann, wo genau und was fotografiert wurde, wird nicht gesagt. Colbergs Arbeit fällt durch das Fehlen einer individuellen Bildsprache auf: viel Michael Schmidt, ein wenig Ulrich Wüst, eine Prise Düsseldorfer Schule… Motive sind nachdenklich schauende Personen (deren Namen im Anhang genannt werden), Denkmalfragmente, Neubauviertel, Wände, Bäume, Äste und Zweige etc., alles bleischwer grau in grau und immer im Hochformat.
Selbst mit der überdeutlichen Interpretationshilfe, die Widmung und Statistik bieten, frage ich mich, was ich von der Bildstrecke halten soll. Wiedererstandene Wohnquartiere auf dem Grund zerbombter Städte, Denkmale für Kriegshelden und Kriegsopfer, Porträts der Urenkel von Opfern oder Tätern? Sicher bin ich mir allerdings, dass aus dieser Ansammlung von Motiven kein gelungenes Fotobuch entstanden ist. Themen wie Holocaust und/oder den aktuell grassierenden Rechtsextremismus fotografisch zu fassen ist nicht eben einfach. Gelungene Beispiele wären für mich Piotr Uklanskis The Nazis (1999 mit einem weniger geglückten Nachfolger von 2017), Plan von Elisabeth Neudörfl und Bettina Lockemann (1999) oder aus jüngerer Zeit Blutiger Boden von Regina Schmeken (2016). Diese drei Bücher eint eine starke Idee, ein Konzept, wie man diese schwierige Aufgabe in jeder Hinsicht (Fotos, Einbeziehung von Text, Buchgestaltung, Produktion) lösen könnte. Colberg fehlt diese tragende Idee; nur ein Stimmungsbild geben zu wollen ist für dieses Thema zu wenig.
- Titel: Vaterland
- Untertitel:
- Bildautor: Jörg Colberg
- Textautor: Jörg Colberg
- Herausgeber:
- Gestalter: Karen Tozzi
- Verlag: Kerber Verlag
- Verlagsort: Bielefeld
- Erscheinungsjahr: 2020
- Sprache: deutsch, englisch, polnisch
- Format: 24 x 16,5 cm
- Seitenzahl: nicht paginiert (96 S.)
- Bindung: illustrierte Klappenbroschur
- Preis: 28 Euro
- ISBN: 978-3-7356-0709-6