Wo Orpheus begraben liegt

Bei Bulgaren zu Gast

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Wenn hierzulande ein Belletristik-Verlag Fotografien druckt, so ist häufig ein liebloses Ergebnis zu erwarten. Nicht so bei diesem Buch. Hanser hat ein bemerkenswertes Foto/Textbuch produziert. Zur vorzüglichen technischen Realisierung kommt eine inhaltlich gelungene Verschränkung von Bild und Prosa (keine simple Illustration beider voneinander). Lebensverhältnisse in Bulgarien werden beleuchtet. Ob die beiden Autoren gemeinsam gereist sind (dafür gibt es Anzeichen), und in welcher Form sie sich verständigt haben, wird leider nicht mitgeteilt. Gern hätte ich gewusst, ob sie sich gegenseitig kritisiert und ermuntert haben.

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Trojanow ist Bulgare und schreibt über seine eigenen Leute. Sein Erzählstil ist eingängig und ernsthaft genug, die Zustände plastisch zu beleuchten. Unversehens geht es tief in die Lebensbedingungen hinein. Dunkles kommt zur Sprache, bleibt dunkel, beunruhigend. Wir erfahren von unwillkommener Rückkehr aus dem Gefängnis, von der Zerstörung der Lebensläufe durch jüngste Geschichte, von den Fesseln der balkanischen Religiösität. Insbesondere die neuen Entwicklungen vernichten alte Gefüge. Fische fangen taugt nicht mehr zum Broterwerb. Menschen werden zur Ware. Das wird nicht von aussen reportiert, sondern von innen erzählt. In solche Tiefen vermag die Kamera kaum zu folgen. Muhrbeck kommentiert mit scheinbar glücklichen Momenten einer Hochzeit. Wenn von den „Zigeunern“ erzählt wird „Wer vom Müll lebt, wird zum Müll“, dann fotografiert er ihr Lachen, aber auch ihre Mühe und ihr Leben auf den Müllhalden. Zum Nachdenken taugen sowohl Text als auch die Bilder.

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Muhrbeck fotografierte nicht dieselben Menschen, die Trojanow erwähnt; so heisst es jedenfalls auf der Impressumsseite. „Wir haben nur Verwandte“ sagt Trojanows Mutter, und es scheint, als ob der deutsche Muhrbeck ein Mitglied dieser grossen Familie geworden ist. Auf jeden Fall schien er wohlgelitten gewesen sein; er ist stets hautnah bei den Protagonisten, bleibt dabei jedoch taktvoll. Es gibt kein Zeichen dafür, dass er „fremd“ gewesen wäre, gestört hat, gar Aussenseiter war.
Es ist erzählende Fotografie, und es sind nicht nur Höhepunktbilder (von denen es nicht wenige gibt!), was zu einem melodiösen Lesefluss führt. Wenn ich Muhrbeck in eine fotografische Tradition stellen soll, dann denke ich an Sergio Larrain, Leonard Freed, Ian Berry oder Viktor Kolár. Letzterem gleicht er in einer Warmherzigkeit, die dennoch den Blick nicht vernebelt.

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Muhrbeck fotografiert schwarz/weiss, erfreulich und erstaunlich, ist es doch eher üblich geworden, vor allem in Osteuropa, sich in deren ungewohnter Farbigkeit zu ergehen. Die Bilder sind teilweise seitenabfallend und über beide Seiten gedruckt; der Bruch stört jedoch wenig, denn Hanser hat eine Hardcover-Bindung mit offenem Rücken gewählt, wodurch sich das Buch bestens aufschlagen lässt.

Auch der Druck ist gut; hier allerdings eine leise Kritik: ich hätte dem Drucker Mut gewünscht, mehr Farbe zu geben. Die Fotografien hätten ein knackigeres Schwarz vertragen.

Wissen wir am Schluss von den Bulgaren mehr? Vielleicht nicht so viel, aber Trojanow und Muhrbeck ziehen in ihren Bann und vermitteln Ahnungen.

  • Titel: Wo Orpheus begraben liegt
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Christian Muhrbeck
  • Textautor: Ilija Trojanow
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Peter Andreas Hassiepen (für den Umschlag)
  • Verlag: Carl Hanser Verlag
  • Verlagsort: München
  • Erscheinungsjahr: 2013
  • Sprache: deutsch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 222
  • Bindung: Illustriertes Hardcover
  • Preis: 24,90 Euro
  • ISBN: 978-3-446-24341-5


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