Die Ostdeutschen

Eine neue Monographie zum Werk von Roger Melis

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Der engagierte Lehmstedt Verlag in Leipzig setzte seine Reihe über ostdeutsche Fotografen mit einer weiteren Monographie zum Werk von Roger Melis (1940-2009) fort. Die Pressemitteilung machte neugierig: „Der mit fast durchweg noch nie publizierten Bildern aus dem Nachlass komponierte Band über Die Ostdeutschen ist ein würdiges Pendant zu den Klassikern der Weltfotografie wie Robert Franks Die Amerikaner (1958) oder René Burris Die Deutschen (1962)“. Das sind schon im Buchtitel angelegte, griffige Vergleiche. Kann der Band halten, was der Verlag verspricht? Die Konzeption ist grundsätzlich eine andere, denn die Bilder von Melis stammen aus 25 Jahren und von einem Insider, während Frank und Burri nur für eine vergleichsweise kurze Zeit und dann als Ausländer unterwegs waren, was ganz andere Blicke ermöglicht.

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Sodann ist die Frage zu stellen, ob im Falle von Die Ostdeutschen das zu Lebzeiten Unveröffentlichte übersehen, verdrängt oder zu Recht in der Schublade geblieben ist. Melis starb zu früh, um Bilder aus seinem Archiv für eine Monographie aufzuarbeiten, die den Anspruch hätte einlösen können, ein Porträt eines ganzen Landes bzw. seiner Bewohner zu geben (wie es bereits 1989, kurz vor dem Mauerfall, mit dem unter Melis´ maßgeblicher Mitwirkung entstandenen Band Schau ins Land überzeugend gelang). Diese Aufarbeitung übernahm jetzt also sein Nachlassverwalter Mathias Bertram, der das Buch auch gestaltete. Bertram gliederte die Fotos in 18 Kapitel zwischen einer Demonstration zum „Tag der Befreiung“ 1965 und dem „Tag der deutschen Einheit“ 1990. Dazwischen stehen immer wieder Porträts (Familien, prominente Kulturschaffende), Essays über Berufstätige wie Arbeiter und Bauern, Bilder von Berliner Hinterhöfen und Marzahner Plattenbauten, Eindrücke von Demonstrationen und von privaten Feiern. Zuerst fällt auf, wie viel der für Zeitschriften und Magazine tätige Fotograf unterwegs war. Und man merkt, dass Melis (und/oder sein Herausgeber) Vorbilder im Kopf hatten, als die Bilder entstanden oder sich, wie zum Beispiel im Falle der Silvesterserie aus dem Jahre 1973, nachträglich Bezüge zu der 1978 veröffentlichten Serie über das Hamburger Café Lehmitz von Anders Petersen einstellen, was auf das Konto des Herausgebers geht. Viele Berufsporträts sind eine Verneigung vor August Sander, die am Arbeitsplatz entstandenen Bildnisse aus Firmen und Fabriken sind bewusste Gegenmodelle zu den Heroen der Arbeitswelt, wie sie die Firmenbücher von Paul Wolff und anderen bevölkern. Es ist also durchaus zu spüren, in welcher Weise Melis auf Vorbilder oder Parallelfälle reagierte. Propagandataugliches musste Melis vermutlich auch abliefern, das Buch freilich ist frei davon. Denn die DDR hatte nicht nur ein „gutes Gesicht“, wie ein Bildband von Karl-Heinz Böhle 1972 vorgaukelte, sondern auch ein alltägliches, graues, was bei Melis sogar aus der Bildauswahl zu den Demonstrationen deutlich wird, Fotos, die erlauben, hinter die Kulissen der Spalier stehenden, jubelnden Volksmassen zu blicken.

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In der fotografischen Haltung kommt Melis dem schon nahe, was der Verlag ein „würdiges Pendant“ zu Frank und Burri nennt. Die Konzeption des retrospektiven Buches ist freilich eine ganze andere. Die Sortierung in Kapitel-Schubladen macht das Ganze zugänglicher als die Sequenzierung bei den Klassikern – aber das muss ja kein Nachteil sein.

PS Der Verlag hat inzwischen auch die noch zu Lebzeiten von Melis erschienene, lange vergriffene Monographie In einem stillen Land neu aufgelegt und bietet beide Bücher zusammen im Schuber als günstige Sonderausgabe an.

  • Titel: Die Ostdeutschen – The East Germans
  • Untertitel: Fotografien aus dem Nachlass – Photographs from the estate 1964-1990
  • Bildautor: Roger Melis


  • Textautor: Mathias Bertram
  • Herausgeber: Mathias Bertram
  • Gestalter: Mathias Bertram
  • Verlag: Lehmstedt Verlag
  • Verlagsort: Leipzig
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 27,5 x 24,3 cm
  • Seitenzahl: 224
  • Bindung: Halbleinen, montiertes Einbandmotiv
  • Preis: 28 Euro (Sonderausgabe 48 Euro)
  • ISBN: 978-3-95797-083-1 (Sonderausgabe 978-3-95797-081-7)

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