Entblößung, Entblödung, Enthemmung

Lois Hechenblaikner zeigt den Aprés-Ski-Wahnsinn in Ischgl

01_Ischgl_k

„Ich habe viele Masken gesehen, wann wird mir ein menschliches Antlitz begegnen“, schrieb Francisco de Goya (1746-1828) unter eines seiner berühmten Caprichos. In dem achtzig Blätter umfassenden Zyklus geißelte der spanische Maler Ende des 18. Jahrhunderts, an der Schwelle zur Moderne, menschliche Laster und Ausschweifungen. Von Goyas schonungsloser Gesellschaftskritik lässt sich eine direkte Linie zu Lois Hechenblaikners Serie Ischgl ziehen. Sein grandioses Fotobuch ist eine Reise in die quietschbunte Finsternis der modernen Spaßkultur, in welcher sich Entblößung, Entblödung und Enthemmung zu einem erschütternden Reigen kollektiver Narrheit verdichten. Menschliche Antlitze sind hier die Ausnahme, oder ist das alles schon normal?

04_Ischgl_k

03_Ischgl_k

Hechenblaikner, 1958 in den Tiroler Alpen geboren, hat die Verwandlung Ischgls vom beschaulichen Bauerndorf zur Massenmetropole des Après-Ski-Wahnsinns länger als zwanzig Jahre mit der Kamera dokumentiert. Über 9000 Aufnahmen sind entstanden, rund 200 davon hat er für sein Buch ausgewählt. Man sieht Leute sich hemmungslos besaufen, während sie mit Sexspielzeugen herumfuchteln. Erwachsene Männer in gesetztem Alter sind bizarr maskiert, tragen T-Shirts, auf denen „Muschi-Freunde“ oder „Geile Sau“ steht und lassen die Hosen runter. Frauen in Dirndls und Kerle in Krachledernen wälzen sich halbnackt und besoffen im Schnee, um sich von den umstehenden Massen willig mit Bier begießen zu lassen. Drei Flaschen Champagner kosten schon mal 8700 Euro, wie man auf einer abgebildeten Handyrechnung sieht. Wer kann sich das leisten? Vorständler von Dax-Konzernen, Chefärzte? Mit Sicherheit die Männer von der Bank Austria, die, wie die Tischkarte zeigt, einen Platz in der „Schatzi-Bar“ oder im „Kitzloch“ reserviert haben. Das Leiden am Leben muss schon sehr groß sein, wenn man sich so gehen lassen muss.

06_Ischgl_k

05_Ischgl_k

Die ritualisierten Ausschweifungen ruinieren nicht nur Verstand und Würde, sondern auch Natur und Landschaft: Skilifte, die sich wie Spinnennetze über die Berge legen, Vermüllung durch Flaschen, Plastikbecher und Bierfässer, Baumaschinen, die den nächsten Abhang planieren.

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, nannte Goya eine seiner berühmtesten Radierungen der Caprichos. Da war doch was: Vom Hot-Spot Ischgl aus verbreitete sich das Corona-Virus über Europa.

02_Ischgl_k

 

  • Titel: Ischgl
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Lois Hechenblaikner
  • Textautor: Stefan Gmünder
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Gerhard Steidl, Holger Feroudj
  • Verlag: Steidl
  • Verlagsort: Göttingen
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: deutsch
  • Format: 24,5 x 28 cm
  • Seitenzahl: 240
  • Bindung: Illustriertes Hardcover
  • Preis: 34 Euro
  • ISBN: 978-3-95829-790-6

Kommentarfunktion geschlossen.