Tschernobyl lebt

Sergey Shestakov und Andrej Krementschouk zu einem noch lange strahlenden Thema

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Vor 25 Jahre explodierte das Atomkraftwerk in Tschernobyl und noch immer erscheinen Bücher darüber.

DER Klassiker des künstlerischen Katastrophentourismus dürfte Robert Polidoris Zones of Exclusion aus dem Jahre 2003 sein. Seitdem sind etliche weitere Fotoarbeiten in dem evakuierten Landstrich rund um das geborstene Mahnmal der Technikgläubigkeit entstanden. So das Buch des russischen Fotografen Sergey Shestakov, der mit seinen grotesken Stillleben dem bisherigen Motivkanon eine surreale Tiefe hinzufügt. Die Sujets (übereilt verlassene Räume, herumliegendes Kinderspielzeug, ein verwaister Festplatz mit dem Riesenrad) kommen einem bekannt vor, der Zerfall ist jedoch fortgeschritten. In Shestakovs Buch wird allerdings die Möglichkeit, mit Doppelseiten zu arbeiten, nicht genutzt. Mit Ausnahme von einigen Panoramaformaten bleibt die linke Seite immer leer. Überraschend für den Charakter der Serie taucht auf einem einzigen Foto eine alte Frau mit gesammelten (verstrahlten?) Pilzen auf. Ein Zufallstreffer oder das Schlüsselbild für das ganze Opus? Die Bilder werden am Ende von einem sinnlosen Index erschlossen, denn wirklich alle Bilder heißen „Untitled, from the series Jouney into the Future. Stop # 1. C-print.“ Immerhin erfährt man noch, dass die Abzüge, die irgendwo in einer Ausstellung hängen, unterschiedlich groß sind, was aber für das Buch ziemlich egal ist und dem Ausstellungsbesucher auch nicht weiterhilft.

Mit größerer Souveränität nähert sich Andrej Krementschouk in seinem dritten Buch dem Thema. Der erste von zwei Teilen zum Thema „Chernobyl Zone“ ist in einem repräsentativen Querformat gestaltet und kommt völlig ohne Text aus, sieht man einmal vom sehr wichtigen Titel des Buches ab und ein paar Sätzen auf der ohnehin flüchtigen Banderole, die vom Verlag um den Buchblock gelegt wurde. Es geht um Leute, die in der verbotenen Zone rund um den explodierten Reaktor leben, meist Alte, die dort schon immer dort wohnten und die nicht mehr wegwollen. Polidori hatte ganze Tableaus mit im Verfall begriffenen Holzhäusern in sein Buch aufgenommen, Krementschouk ist nicht an oberflächlichen Typologien interessiert, sondern an Bildern, die dem Leben auf den Grund gehen. Diese traumhaften Allegorien für das Werden und Vergehen hätten auch woanders (in Russland oder in der Ukraine) entstehen können, dass sie aber aus der Zone rund um Tschernobyl stammen, lädt sie zusätzlich auf. Das Leben an der Strahlenschleuder – ein Tanz am Abgrund und trotzdem lebenswert. Heimat eben.

Die Katastrophe in der Ukraine hatte Konjunktur nicht nur durch ihr Silberjubiläum, zu dem eine immer noch fehlende, technisch zuverlässige Bewältigungsstrategie angemahnt wurde, sondern auch durch die aktuelle japanische Variante von Fukushima. Zu dem Risiko, Wachstum und Wohlstand in einem dicht besiedelten und keinesfalls auf ruhiger Scholle liegenden Eiland an die Kernkraft zu binden, hatte Taishi Hirokawa bereits 1994, also mit dem Wissen um Tschernobyl, einen so lakonischen wie bildmächtigen Kommentar abgegeben: „Still crazy“. An diesem nur noch antiquarisch* oder vielleicht direkt beim Künstler zu bekommenden Großformat stimmt einfach alles: Der silbrig graue Druck der düsteren Schwarzweißbilder verharmlost nichts und lässt die Kernkraftwerke kalt, bedrohlich und unnahbar als Fremdkörper erscheinen. Inzwischen zeigt sich, dass der Fotograf damit eine höchst realistische Ästhetik gefunden hatte. Wie, wo und wann sich seine wie eine Prophezeiung wirkende künstlerische Arbeit erfüllen würde, konnte der Fotograf damals noch nicht wissen. Hirokawa hatte jedenfalls auch Fukushima in seine Serie aufgenommen… Das europäische Gegenstück zu Hirokawa ist Jürgen Nefzger, dessen farbige Landschaften mit Kernkraftwerken vorwiegend heiter wirken. Wie ein höhnischer Kommentar auf die Versprechungen der Industrie wirkt Nefzgers Idee, die Allgegenwart der Höllenmaschinen bloßzulegen. Das Amüsement ist hier mit Nebenwirkungen verbunden.

Nach den Katastrophen bleiben dann nur noch traurige Bilder. Es wird nicht lange dauern, dann wird es auch zu Fukushima die Bestandsaufnahmen des stillen Schreckens geben, wie er für Tschernobyl noch immer Bücher füllt.

Fukushima, aus dem Buch von Taishi Hirokawa

* Bei einem Anbieter aus den USA via Amazon.com augenblicklich noch sehr preiswert etwa zum Originalpreis.

 

 

  • Titel: Jouney into the Future. Stop # 1
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Sergey Shestakov
  • Textautor: Sergey Shestakov, Wakana Kono, Olga Sviblova
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Naroska
  • Verlag: seltmann + söhne
  • Verlagsort: Berlin/Lüdenscheid
  • Erscheinungsjahr: 2011
  • Sprache: englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 152
  • Bindung: Leinen mit montierter Abbildung
  • Preis: 29 Euro
  • ISBN: 978-3-942831-15-4
  • Titel: Chernobyl Zone (I)
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Andrej Krementschouk
  • Textautor: 
  • Herausgeber: Andrej Krementschouk
  • Gestalter: 
  • Verlag: Kehrer
  • Verlagsort: Heidelberg
  • Erscheinungsjahr: 2011
  • Sprache: deutsch, englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 96
  • Bindung: illustriertes Halbleinen
  • Preis: 58 Euro
  • ISBN: 978-3-86828-200-9
  • Titel: Still Crazy
  • Untertitel: Nuclear power plants as seen in Japanese landscapes
  • Bildautor: Taishi Hirokawa
  • Textautor: Taishi Hirokawa
  • Herausgeber: 
  • Gestalter: Koichi Hara
  • Verlag: Korinsha Press
  • Verlagsort: Kyoto
  • Erscheinungsjahr: 1994
  • Sprache: englisch
  • Format: 
  • Seitenzahl: 96
  • Bindung: Hardcover
  • Preis: 4500 Yen
  • ISBN: 7713-0169-7