Zwischen Staatsnähe und Individualismus

Die definitive Monografie zu Leben und Werk von Christian Borchert

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Christian Borcherts (1942-2000) unermüdliches Schaffen als Fotograf und Bildarchivar in der DDR changiert zwischen Staatsnähe und freiberuflichem Einzelgängertum. Er war eine unauffällige, freundliche Berühmtheit, die in keinem Werk über die Fotografie in der DDR fehlt. Nachdem in den letzten Jahren einige kleinere Monografien über Borchert erschienen sind, liegt jetzt ein wirklich umfassendes Werk über Leben und Werk des Fotografen vor. Anlass gab eine Ausstellung, die in Dresden zu sehen war und jetzt noch in Hannover zu sehen ist.

Das Motiv auf dem Cover von Tektonik der Erinnerung stammt aus der Serie über die Sanierungsbaustelle Semperoper Dresden und visualiert den Buchtitel perfekt als Bild gewordenen Blick in die Vergangenheit: der Vordergrund ist noch scharf und klar wie die Gegenwart, der Hintergrund, sprich, die Vergangenheit, ist nebulös, abgesehen von einigen hellen Fixpunkten, die man nie vergessen wird. Borcherts Lebensweg mit der schrittweisen Professionalisierung seines Interesses an der Fotografie vom studierten Kopierwerkstechniker über den Facharbeiterbrief als Fotograf hin zum diplomierten Fotografiker und seine Publikationen, ob als maßgeblich Beteiligter an einem Propagandawerk über die NVA (Ich schwöre, 1969), als Bildjournalist für die NBI, als Autor zu Büchern über Themen des Dokumentarfilms (Dresden, Klemperer) und schließlich als Beteiligter an fotokünstlerischen Ausstellungen wird von Bertram Kaschek materialreich und mit vielen Fußnoten nachgezeichnet. Kaschek spart einige unangenehme, DDR-typische biografische Details nicht aus, auch wenn sie für die Würdigung von Person und Werk keine große Bedeutung haben mögen.

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Das künftige Standardwerk zu Borchert startet mit einer vor allem Nachtszenen bietetenden Serie mit Details aus Dresden 1991/92, die der Monografie ihren Titel gab. Die Textteile sind an ihrem elfeneinfarbigen Werkdruckpapier leicht zu erkennen. Biographie, Bibliographie und Bildkatalog fehlen nicht in diesem von Helmut Völter gestalteten schönen Buch, das auch ohne die Ausstellung einen umfassend aufbereiteten Gang durch den Bilderkosmos von Christian Borchert bietet. Sogar ein unpubiziert gebliebener Buchentwurf von 1974 wird vorgestellt.

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Es ist hier nicht der Ort, die üppige, allen Aspekten des Borchertschen Werks gerecht werdende Monografie im Detail vorstellen zu können. Borchert prägte mit seinen langen Serien beispielsweise über Familien und Künstler das erinnerte Bild der DDR wie kaum ein zweiter. Dass er sich erlaubte, der Darstellung des Privaten in dem von Misstrauen geprägten Land einen so großen Raum zu geben, macht sein Werk heute so wertvoll.

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  • Titel: Christian Borchert - Tektonik der Erinnerung
  • Untertitel: 
  • Bildautor: Christian Borchert
  • Textautor: Bertram Kaschek
  • Herausgeber: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Bertram Kaschek
  • Gestalter: Helmut Völter
  • Verlag: Spector Books
  • Verlagsort: Leipzig
  • Erscheinungsjahr: 2020
  • Sprache: deutsch, englische Version: The Tectonics of Remembrance
  • Format: 28 x 25 cm
  • Seitenzahl: 496
  • Bindung: Hardcover mit montierter Abb.
  • Preis: 42 Euro
  • ISBN: 9783959053235 (deutsch), 9783959053235 (englisch)

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